Tagebuch aus Aleppo (Teil 4)

"Familie bedeutet alles für mich"

Eine syrische Familie - Mutter, Vater und sechs Kinder - sitzt in einer Wohnung mit unverputzten Wänden auf einem Teppich, an den Wänden hängen ein kleiner Spiegel, einzelne Bilder und zwei große Stoff-Teddybären.
Eine syrische Familie © picture alliance / dpa / Mika Schmidt
Von Julia Tieke · 22.12.2015
Die Proteste in Syrien begannen friedlich - inzwischen herrscht Krieg. Die achtteilige Serie "Tagebuch aus Aleppo" des syrischen Exilsenders "Radio Rooh" und Julia Tieke fängt persönliche Berichte junger Syrer aus der umkämpften Stadt ein: Drei junge Menschen aus Aleppo erzählen von ihrem Alltag im inzwischen über drei Jahre anhaltenden Krieg.
Mahmoud: "Wir enden den Tag damit, uns von allen aus der Familie zu verabschieden, damit, wenn ich sie beim Aufstehen tot vorfinde, ich mich von ihnen verabschiedet habe."
Was bedeutet Dir Deine Familie? Wie geht es ihr? Hättest Du gerne eine eigene Familie? In Berlin sitze ich am Schreibtisch und schicke Fragen nach Gaziantep in der Südtürkei. Dort lebt Haytham, der den kleinen syrischen Sender Radio Rooh betreibt. Immer wieder geht er auch in seine Heimatstadt Aleppo, mitten ins Kriegsgebiet. Dorthin nimmt er meine Fragen mit.
Fajer: "Familie bedeutet alles für mich. Sie bedeutet Sicherheit, Freude."
Ich möchte Stimmen von jungen Menschen in Aleppo hören, möchte erfahren, was sie fühlen, denken, erleben.
Fajer: "Meine Mutter, Bruder und Schwester leben in den vom Regime kontrollierten Vierteln, und ich habe oft Angst um sie. Mein Bruder und meine Schwester studieren dort. Mein Vater ist jetzt in Istanbul, mit meinem anderen Bruder, der für ihn sorgt. Er ist Ingenieur und findet keine Arbeit."
Sobhi: "Ich bin ein sehr sozialer Mensch, und ich erlebe die glücklichsten Momente meines Lebens, wenn ich mit meiner Familie zusammen sitze und spüre, dass sie glücklich ist. Ich bin bereit zu kämpfen, damit ich niemanden aus meiner Familie verliere. Familie ist für mich Glück, Hoffnung, Ambitionen. Alles."
Fajer: "Mein Bruder bedeutet mir viel. Er wollte unbedingt eine Waffe tragen und kämpfen und wir haben ihm dann immer was vorgespielt, damit er nicht loszieht: "Ich bin krank, ich möchte, dass du morgen den Laden aufmachst. Manchmal wünsche ich mir, dass er stirbt, damit ich meine Ruhe habe, aber gleichzeitig habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich das denke. Wir lieben uns ja."
Mahmoud: "Die Familie ist das Fundament, dein Fundament. Aber in der jetzigen Krise haben viele Leute keine Familie mehr. Denen müssen wir helfen. Wir müssen wie ihre Eltern sein oder Geschwister oder Kinder."
Fajer: "Ich hätte gerne eine kleine Familie, mit zwei Jungen und zwei Mädchen, sie wären zu viert. Meine Frau wäre lustig und würde mich lieben, und ich sie natürlich auch. Sie hätte Träume, die wir miteinander verwirklichten. Unsere Kinder würden groß werden und uns lieben. Ich wünsche mir, dass meine Kinder ihren Großvater kennen lernen, und mich, ihren Vater. Ich möchte, dass sie Familienleben lieben, dass sie von ihrer Familie lernen, von ihren Großeltern. Das Thema mag ich sehr."
Sobhi: "Eine Familie zu gründen – das überlege ich mir jetzt tausend Mal. Vor der Krise wollte ich eine Familie gründen und ein Haus kaufen, heiraten, Kinder bekommen. Aber jetzt überdenke ich das, denn wir jungen Leute haben Verantwortung für unsere Familien, Vater, Mutter, Geschwister."
Mahmoud: "Meine zukünftige Frau soll schön sein, mehr sag' ich nicht, haram (lacht) und ich hätte gerne zwei Jungs und zwei Mädchen, zwei Zwillinge - Junge und Mädchen, Junge und Mädchen. Weil sich Zwillinge gegenseitig gut verstehen. Wenn der eine leidet, leidet auch der andere. Sie teilen alles. Ich hätte gern Zwillinge. Gott schenke mir Zwillinge."
Sobhi: "Die ganze Idee von Familie hat sich verändert. Vor der Krise, als ich klein war, hatte ich nicht die Vorstellung von Familie als Liebe und Harmonie. Aber jetzt sitzen wir ohne Arbeit zuhause, mit der Familie, und meine Familie bedeutet mir jetzt alles. Ich bin überrascht davon, dass ich das von Gott bekommen habe."
Mahmoud: "Sogar in der Krise liebe ich es, meine Familie zum Lachen zu bringen. Wenn ich nach Hause komme und meine Familie griesgrämig vorfinde, ängstlich, dann denke ich, dass ich sie aufmuntern muss. Darum komme ich wie ein Wirbelsturm rein und verändere die Stimmung."

Serie "Tagebuch aus Aleppo" - in acht Teilen
Drei junge Menschen aus Aleppo und Umgebung beschreiben ihren Alltag in Ton und Text. Der syrische Radiokollege Haytham Kabbani des Exilsenders "Radio Rooh" mit Sitz im türkischen Gaziantep hat das Material gesammelt und an die Autorin Julia Tieke geschickt.

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