Täter-Fotos aus Sobibor aufgetaucht

Bildlicher Ausdruck der "Banalität des Bösen"

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Von einem Wachturm aufgenommene Übersicht über Lager I und das Vorlager im Hintergrund, Frühsommer 1943. Neben der Baracke am linken Bildrand und im Vordergrund zwischen den Brennholz-Stapeln ist jeweils ein jüdischer Zwangsarbeiter zu erkennen. Rechts im Durchgang zwischen den Lagerzäunen patrouillieren zwei Trawniki, in der Verlängerung der Umzäunung ist das helle Dach des Bahnhofsgebäudes sichtbar.
Für die Ankommenden im Vernichtungslager Sobibor deutete nichts darauf hin, dass sich hier eine Todesfabrik befand. © United States Holocaust Memorial Museum (USHMM)
Von Christiane Habermalz · 28.01.2020
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Im Vernichtungslager Sobibor wurden 250.000 Juden von den Nazis ermordet. Wie das Lager aussah, konnte bisher nur aus Erzählungen rekonstruiert werden, es gab nur zwei Fotos. Nun sind 49 weitere Bilder aufgetaucht, die den Alltag im Lager zeigen.
Das Foto zeigt eine freundliche Siedlung: Häuser mit Spitzdächern, Gärten, beschnittene Hecken. Wären nicht die Baracke im Vordergrund und die doppelte Stacheldraht-Umzäunung gewesen, in dessen Mitte ein Wachsoldat Patrouille lief, wäre die Idylle perfekt. Die schmucken Häuser sind das sogenannte Vorlager des Vernichtungslagers Sobibor, in dem die deutschen Täter und das Wachpersonal lebten.
Im Hintergrund: Das Bahnhofsgebäude mit den Gleisen, an dem die Menschentransporte ankamen. Von hier aus wurden sie durch einen dunklen Gang direkt in die Gaskammern getrieben - wie auch am 16. Juli 1943 die Großeltern von Jetje Manheim aus den Niederlanden. Sie hat das Vorwort geschrieben zu dem kommentierten Fotoband, der nun erschienen ist:
"Es war eine atemberaubende Erfahrung, die Fotos von Sobibor zu sehen zu bekommen. Das erste Mal hatte ich vor Augen, was meine Großeltern sahen, als sie nach der anstrengenden Zugreise von 72 Stunden in einem Güterwaggon in Sobibor ankamen. Noch am selben Tag endete ihr Leben."

Erstmals gibt es ein Bild vom "deutschen Dorf"

Die wenigen Menschen, die Sobibor überlebten, hatten diese Ansicht schon beschrieben. Für die Ankommenden deutete nichts an diesem "deutschen Dorf", wie sie es nannten, mit seinen geharkten Kieswegen und Blumenbeeten, darauf hin, dass sich hier eine Todesfabrik befand. Doch erstmals gibt es nun ein Bild davon. Es ist eines von 49 Fotos, die jetzt aus dem Vernichtungslager Sobibor aufgetaucht sind – eine kleine Sensation.
Sie stammen aus dem Besitz von Johann Niemann, dem stellvertretenden Lagerkommandanten, zusammen mit fast 300 weiteren Bildern und Dokumenten - private Erinnerungen an die Stationen seiner Karriere als SS-Mordgehilfe in verschiedenen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Ein Nachfahre Niemanns hat die Sammlung der Wissenschaft übergeben. In mehrjähriger Arbeit ist sie von Historikern erforscht und aufgearbeitet worden.
Martin Cüppers zeigt auf ein Foto, auf dem mutmaßlich der verurteilte Aufseher John Iwan Demjanjuk zu sehen ist.
Martin Cüppers zeigt auf ein Foto, auf dem mutmaßlich der verurteilte Aufseher Demjanjuk zu sehen ist.© Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/dpa
Darunter auch zwei Aufnahmen, die mit großer Wahrscheinlichkeit den ukrainischen Wachmann Iwan Demjanjuk zeigen, der 2011 in München wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 28.060 Juden zu einer Haftstrafe verurteilt worden war.
Um ihn und auch andere mögliche Täter zu identifizieren, wurde sogar die biometrische Abteilung des LKA Baden-Württemberg eingeschaltet, Abteilung Lichtbildvergleiche, erläutert Martin Cüppers, Leiter der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Mannheim:
"Das funktioniert so, dass wir Vergleichsfotos gesammelt haben von Personen, von denen wir meinten, sie sind auf den Niemann-Fotos sichtbar. In manchen Fällen ist das ganz eindeutig gewesen, in manchen aber auch fraglich. Und so sind eben auch diese Trawniki-Fotos. Das LKA Baden-Württemberg kommt zu dem Ergebnis: Wahrscheinlich ist das Iwan, der spätere John Demjanjuk."

Von Sobibor gab es bislang nur zwei belegte Bilder

Die Fotos sind deswegen so bedeutsam, weil sie eine dokumentarische Lücke füllen, ein visuelles Schwarzes Loch in der Geschichtsschreibung. Von der "Aktion Reinhard", mit der die Nationalsozialisten nach der Besetzung Polens in den Jahren 1942 und '43 mit der systematischen Ermordung von 1,8 Millionen Jüdinnen und Juden und 50.000 Roma vor allem aus Polen, aber auch aus anderen europäischen Ländern, begannen, gibt es kaum Fotomaterial.
1943 wurden die drei Schauplätze der "Aktion Reinhard", die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka, abgebaut. Akribisch sorgten die Deutschen dafür, die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen. Von Sobibor, in dem allein etwa 250.000 Juden in Gaskammern mit Motorabgasen vergiftet wurden, gab es bislang überhaupt nur zwei belegte Bilder.
Und auch die Namen der beteiligten Täter sind in der Öffentlichkeit kaum bekannt. So wie man auch über Johann Niemann, den früheren Malergesellen und stellvertretenden Lagerkommandanten von Sobibor, kaum etwas wusste – obwohl er an hunderttausendfachem Mord beteiligt war. Im Oktober 1943 wurde er von jüdischen Gefangenen bei einem Aufstand mit der Axt erschlagen.

"Wir haben mit dieser Person ein Spotlight auf einen wichtigen Täter, aber auch auf ein Beispiel, wie nationalsozialistische Vernichtungspolitik im deutsch besetzten Europa, im Deutschen Reich auch, überhaupt funktionieren konnte. Durch solche Niemanns war das möglich. Und die Pionierrolle, die solche Täter spielen, ist so wichtig wahrzunehmen", sagt Cüpper.
Inszenierte Aufnahme Niemanns zu Pferd im Sommer 1943.
Der stellvertretende Lagerkommandant Johann Niemann zu Pferd. Aus seinem Nachlass sind die Fotos. Einer seiner Nachfahren hat sie der Wissenschaft zur Verfügung gestellt.© United States Holocaust Memorial Museum (USHMM)

Keines der Fotos zeigt das Morden

Es gibt keine Fotos, die das Töten zeigen, und nur auf wenigen sind Häftlinge zu sehen. Stattdessen: Fröhliches Zusammensein der Täter auf der Casino-Terrasse, Scherzen mit den weiblichen polnischen Angestellten, Bilder vom Lageralltag, vom Schachspielen, von einem Besuch in der Kanzlei des Führers in Berlin.
Niemann hoch zu Ross auf der Trasse des Bahnhofs in Sobibor, wo er die verängstigten Menschen, die aus den Viehwaggons getrieben wurden, mit einer kleinen Rede zu empfangen pflegte, ihnen erzählte, sie würden hier zur Arbeit eingeteilt, während sie direkt ins Gas geschickt wurden.
"Prediger" nannten ihn die Häftlinge. Die "Banalität des Bösen" hat das Hannah Ahrendt genannt. Hier findet sie ihren bildlichen Ausdruck.
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