Tägliches Vergessen

Rezensiert von Christine Westerhaus · 21.09.2005
Menschen mit Alzheimer begleitet das Vergessen den ganzen Tag - ständig verlegen sie Dinge und können sich nicht daran erinnern, was sie vor ein paar Minuten getan haben. Im Endstadium ihrer Krankheit erkennen sie selbst nahe Verwandte nicht mehr und wissen nicht einmal mehr, wer sie selbst sind.
Der Journalist David Shenk hat ein Buch geschrieben, in dem er die Krankheit Alzheimer portraitiert. Er beschränkt sich nicht darauf, zu beschreiben, was für Symptome bei Alzheimer auftreten oder wer die Krankheit bekommt, sondern er schildert auch detailliert, wie Alzheimer die Menschen allmählich verändert, wie sie Stück für Stück einen Teil ihrer Persönlichkeit verlieren.

Zudem geht Shenk darauf ein, was diese Veränderungen für Angehörige bedeuten, wie sie mit der Krankheit umgehen. Er beschreibt viele Einzelschicksale, verfolgt den Leidensweg der Patienten und zitiert Angehörige. Dadurch wird dem Leser klar, was es für Familienmitglieder bedeutet, mit einem Alzheimer Patienten zu leben. Es bedeutet, den geistigen Verfall eines geliebten Menschen zu erleben und zu beobachten, wie er oder sie nach und nach die eigene Persönlichkeit verliert.

Der Autor macht dabei ebenso deutlich, dass auch die Gesellschaft lernen muss, mit Alzheimer-Patienten umzugehen, weil es im Laufe der nächsten Jahre immer mehr werden. Laut Shenk wird sich diese Krankheit in den nächsten Jahren zu einer Epidemie entwickeln, weil immer mehr Menschen immer älter werden. Und im Alter steigt das Risiko, an Alzheimer zu erkranken.

Die medizinischen Details der Krankheit Alzheimer lässt der Autor immer wieder in Zwischenkapiteln einfließen. Dabei lernt der Leser, dass die Ursachen der Krankheit vor allem so genannte Plaques und Tangles sind, die sich im Gehirn ablagern. Diese Plaques und Tangles sind Eiweiße, die die Nervenzellen verkleben und absterben lassen. In den Anfangsstadien betrifft das vor allem das Kurzzeitgedächtnis, so dass sich die Patienten nicht mehr daran erinnern können, was gestern war oder was sie vor ein paar Minuten getan haben.

Später verklebt dieser Eiweißmüll aber auch andere Regionen im Gehirn, so dass ganz allmählich auch das Langzeitgedächtnis zugrunde geht. Im Endstadium ist das ganze Gehirn befallen. Das ist der Moment, wo die Patienten nicht mal mehr auf äußere Reize reagieren können. Sie lächeln nicht mehr und irgendwann hören sie einfach auf zu atmen.

Das alles beschreibt der Autor des Buches beklemmend anschaulich, insbesondere dann, wenn er auf die Krankheitsgeschichte berühmter Menschen zu sprechen kommt.

Interessant ist das Buch vor allem für Menschen, die persönlich von der Krankheit betroffen sind. Shenks Buch ist aber im Prinzip jedem zu empfehlen, der mit dem Thema etwas anfangen kann. Es ist vielseitig und unterhaltsam geschrieben und man braucht überhaupt kein Vorwissen, um in das Thema einsteigen zu können.

Shenk verwendet eine sehr einfache, gut verständliche Sprache und verpackt die medizinischen Details immer gekonnt in unterhaltsame Geschichten. Dadurch wird das Buch an manchen Stellen sogar richtig spannend. Und stellenweise bekommt es sogar philosophische Züge. Zum Beispiel, wenn Shenk darauf aufmerksam macht, das das Heimtückische an Alzheimer ist, dass es den Menschen an seinem wundesten Punkt angreift. An dem, worin er sich von allen Tieren unterscheidet: Seiner enormen Hirnleistung.

David Shenk: Alzheimer – Portrait einer Epidemie
Europa Verlag
312 Seiten, 19,90 Euro