Tadeusz Kantor im Museum Tinguely in Basel

Der Atem des Todes

04:39 Minuten
Zwei Männer sind auf der Bühne während einer Theateraufführung zu sehen, links ist Kantor selbst zu sehen.
Szene aus der Originalaufführung von „Où sont les neiges d’antan“ aus dem Jahr 1979, links Kantor. © Museum Tinguely
Von Johannes Halder · 12.10.2019
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Performance, Theater, Collage – all das ist Tadeusz Kantors halbstündiges Stück "Wo ist der Schnee von gestern?", das derzeit im Museum Tinguely in Basel gezeigt wird. Kantor wird dort als einer der wichtigsten Theaterschaffenden Polens geehrt.
Die Trompete des Jüngsten Gerichts spielt eine zentrale Rolle in diesem Stück. Immer wieder ertönt der klagende Klang des mächtigen Instruments, das sich auf einem fahrbaren schwarzen Gerüst über die Bühne bewegen lässt und das Tadeusz Kantor wie alle Requisiten selbst entworfen hatte. "Wo ist der Schnee von gestern?"
Die Kuratorin Lisa Grenzebach erklärt den Titel:
"Das ist ein Zitat aus einem Gedicht von François Villon aus dem 15. Jahrhundert, in dem es darum geht, dass er die Schönheit von den Frauen der Vergangenheit besingt und damit klar macht: Es ist alles vergänglich und alles wiederholt sich zugleich."

Schauspielerei als offener Prozess

Das halbstündige Stück ist eine Art Performance, eine skizzenhafte Collage aus verschiedenen szenischen Fragmenten, ohne festgelegte Handlung, fast ohne Text, und es wird – typisch Kantor – viel improvisiert: Schauspielerei als offener Prozess.
Auf einer großen Leinwand sehen wir die Uraufführung von 1979 in Rom. Die Akteure, das sind ein skelettierter Rabbi, zwei Kardinäle, SS-Chef Heinrich Himmler, ein Brautpaar, Leute aus dem Volk, und nicht zuletzt der Regisseur, Tadeusz Kantor selbst, der – die Zigarette im Mund – auf der Bühne immer wieder kommentierend eingreift mit Gesten und Kommandos:
"Nein nein, zeig nicht deine Zunge!", ruft er einem der Akteure beispielsweise zu. Die Requisiten, mit denen die Darsteller hantieren, sind bescheiden: ein Seil, ein Maßstab, ein Koffer, ein Paket. Sie lesen Zeitung, führen zu Walzermusik einen makabren Totentanz auf und löschen mit Wassereimern ein Feuer, denn – jetzt kommt der Holocaust ins Spiel – das Schtetl brennt, das jüdische Dorf, und es brechen Hektik und Verzweiflung aus.

Alles vergangen, alles von vorne

Am Ende ist alles vergangen und vorbei, und doch fängt alles wieder von vorne an. Der Atem des Todes hängt über der ganzen Schau.
Die Ausstellung zeigt die originalen Requisiten von damals wie auf einer Bühne: die schwarze Trompete auf ihrem galgenartigen Gerüst aus Stangen, Zahnrädern und Kurbeln, die Kostüme aus raschelndem Papier, weiß, rot und schwarz, und all die anderen Objekte; dazu Fotografien sowie Zeichnungen, die Kantor für einzelne Szenen angefertigt hatte.
Installationsansicht der Ausstellung Tadeusz Kantor im Museum Tinguely.
In der Ausstellung zu Tadeusz Kantor im Museum Tinguely.© Musée Tinguely / Nicolas Lieber
Der polnische Schauspieler Bogdan Renczyński, der Kantors Nachlass in Krakau betreut, hat als junger Mann mit Kantor gearbeitet.
"So etwas hatte ich zuvor noch nie gesehen. Kantors Regieanweisungen, diese ganz besondere Art, sich auf der Bühne zu bewegen, die Stimmen der Schauspieler – das war wie ein Schock für mich, das völlige Gegenteil von dem, was ich auf der Schauspielschule gelernt hatte. Ein echter Schock. Auch für das Publikum."

Selbst ein wenig Kantor spielen

Das Publikum kann jetzt in Basel auch einmal in Kantors Rolle schlüpfen. Inspiriert von seinem "Theater des Todes" hat das Künstlerduo Tale of Tales eine Virtual-Reality-Animation entwickelt, bei der man – mit Datenbrille und Controller – auf einer virtuellen Bühne verschiedene Charaktere und Objekte bewegen kann: lebensgroße Puppen und jede Menge Rabenvögel, dazu allerlei Requisiten wie ein Stuhl, ein Tisch, ein Schrank, ein Bettgestell – sehr nahe an Kantors eigener Bühnenwelt, sagt die Kuratorin:
"Die Künstler Tale of Tales haben einen Monat in seinem Haus in Hucisco verbracht. Sie haben in seinem Bett geschlafen, sie durften die Schränke öffnen, also es ist alles eigentlich so, als wäre er gerade zum Theater gegangen und kommt abends wieder."
Und so darf der Akteur ein paar Minuten lang spielerisch sein eigenes Stück kreieren, bis das Museumspersonal heimlich eingreift und den Controller abstellt, so dass ihm die Regie über das Bühnengeschehen entgleitet, die Dinge in einem chaotischen Wirbel verschwinden und er am Ende alleine zurückbleibt auf der leeren Bühne. Eine verstörende Erfahrung, aber wohl ganz im Sinne Kantors.

Die Ausstellung "Tadeusz Kantor: Où sont les neiges d’antan" im Museum Tinguely in Basel ist noch bis zum 5. Januar zu sehen, die virtuelle Installation ist noch bis zum 20. Oktober aktiv.

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