Systematische Vergewaltigungen im Krieg

Gedemütigt, erniedrigt, beschämt

Zwei Frauen halten sich die Hände vor das Gesicht. Sie wurden 2002 im Bügerkrieg in Liberia Opfer von sexueller Gewalt.
Vergewaltigungen werden immer wieder als Kriegswaffe eingesetzt. Betroffen sind vor allem Frauen. Aber auch Männer zählen zu den Opfern. © picture-alliance / dpa / epa Kim Ludbrook
Von Andreas Baum · 14.02.2018
Vergewaltigungen gab und gibt es in jedem Krieg. Sie werden als Kriegswaffe eingesetzt, um Frauen wie Männer zu erniedrigen und ganze Gemeinschaften zu zerstören. Sexualisierte Kriegsgewalt wurde auch lange von der Wissenschaft ignoriert.
"Ich fürchte, es gibt da eine Hierarchie der Kriegsopfer."
Miriam Gebhardt, Historikerin an der Universität zu Konstanz. Sie argumentiert, dass die wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Kriegsfolgen im Nachkriegsdeutschland kaum mehr war als ein organisierter Verdrängungsprozess.
"Erstmal waren die ‚heroischeren‘ Kriegsopfer, die Kriegsversehrten wichtig. Dann die Trümmerkinder. Das hat auch mit der personellen Zusammensetzung der Geschichtswissenschaft zu tun. Dass sich dann vor allem die vaterlosen Söhne zu Wort gemeldet und ihr Leid zum historischen Thema gemacht haben. Und die Frauen, fürchte ich, kommen als wenig ‚heroische‘ Kriegsopfer erst am Ende dran."
Zum Narrativ der Nachkriegszeit gehörte, dass es insbesondere die Rote Armee gewesen sei, die Vergewaltigungen zuließ. Miriam Gebhardt weist nach, dass diese Taten unter Franzosen, Engländern und Amerikanern sehr viel häufiger waren, als bisher eingestanden wird. Sie schaut in Geburtsregister, in denen verzeichnet ist, welche Schwangerschaften auf Vergewaltigungen von Besatzungssoldaten zurückgeführt werden. Gleichzeitig wertet sie Einmarschberichte von Geistlichen aus, liest Selbstzeugnisse von Frauen und zählt Fälle, in denen Abtreibungen genehmigt wurden. Konservativ geschätzt gab es demnach mindestens 860.000 Vergewaltigungen im und nach dem Zweiten Weltkrieg – durch Westalliierte und Rotarmisten.

Die Persönlichkeit soll vernichtet werden

Im Zentrum steht die Frage, welchen Zweck Vergewaltigungen im Krieg haben. Die Regensburger Militärsoziologin Ruth Seifert sagt, dass sie schon in Friedenszeiten auf den Kern des Individuums zielen, auf die Vernichtung der Persönlichkeit. Wer Vergewaltigungen massenhaft und strategisch einsetzt, wie dies in Kriegen geschieht, will nicht nur Einzelne damit schädigen.
"Das Wesentliche ist, dass die Auswirkungen auf das Kollektiv andere sind. Das Kollektiv hat Probleme, diese schambehafteten Opfer wieder zurück zu integrieren in das Kollektiv. Was es als, wenn man dieses Wort benutzen will, als Kriegswaffe besonders geeignet macht."
Sexualisierte Kriegsgewalt schädigt ganze Gemeinschaften - und zwar auf Dauer. Familien werden dysfunktional, sobald nur eines ihrer Mitglieder leidet. Und Traumata werden weiter gegeben, an Kinder, Enkel und Urenkel. Darüber hinaus scheint der Einsatz von Vergewaltigungen als Kriegswaffe ein klares Signal zu senden, sagt Ruth Seifert:
"Sexualisierte Gewalt dürfte ein Akt sein, der hypersaturiert mit Bedeutungen ist. Das heißt die Bedeutungen können wechseln. Was in einem Kontext durch einen Akt sexualisierter Gewalt ausgedrückt wird, kann in einem anderen kulturellen Kontext bedeutungslos sein. Also was wir wissen, ist, dass es eben diese Kommunikationsfunktion hat, dass es Demütigung ausdrückt, dass es Erniedrigung ausdrückt und dass es vor allen Dingen diesen Aspekt der Schambehaftung hat. Dass es die einzelne Person beschämt, aber auch das ganze Kollektiv beschämt. Was eine der zentralen Bedeutungen zu sein scheint."

Ruanda und Bosnien als Wendepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung

Dass dies so ist, wird in der Wissenschaft erst seit 20 Jahren anerkannt. In den 90er-Jahren entstand, ausgelöst durch sexualisierte Kriegsgewalt in Ruanda und Bosnien, ein offener Diskurs. Auch Politik und Justiz setzten das Thema auf die Tagesordnung. In früheren Prozessen gegen Kriegsverbrecher hingegen, auch in denen von Nürnberg, wurde das Thema völlig ausgespart. Die Tabuisierung war allumfassend.
"Weil die Erklärungsmuster, die angeboten wurden, die Sache sehr stark naturalisierten und marginalisierten. Also, es war ein ‚unvermeidlicher Bestandteil von Kriegen‘, die irgendwas zu tun hatten - also so die damaligen Diskurse – mit irgendwelchen nicht genauer definierbaren Triebhaftigkeiten. Auf jeden Fall nicht weiter problematisierbar."
Heute, da Wissenschaftlerinnen das Thema auch aus einer feministischen Perspektive betrachten, tritt ein weiterer, ebenfalls stark verdrängter Aspekt ans Licht. Frauen und Mädchen sind in Kriegen nicht die einzigen Vergewaltigungsopfer. Auch Männer und Jungen sind betroffen - und zwar in hohem Maße.
"Diejenigen, die versuchen, die Daten zu sammeln, weisen darauf hin, dass sich immer stärker der Eindruck verdichtet, dass die Zahl der betroffenen Männer weitaus höher ist, als angenommen."

Auch Männer werden Opfer

Ein Grund für die späte Erkenntnis ist, dass Männer noch weniger über Verletzungen sprechen als Frauen. Und anders als für weibliche Opfer gibt es für im und nach dem Zweiten Weltkrieg vergewaltigte Männer bis heute kein Forum. Die Historikerin Miriam Gebhard weist darauf hin, dass die wenigen, die es wagten, über die Tat zu sprechen, Gefahr liefen, sich selbst zu schaden. Denn auch im Zweiten Weltkrieg gab es Vergewaltigungen von Männern - diese wurden nur nicht so genannt.
"Wenn ein junger Mann behauptete, vergewaltigt worden zu sein, wurde erstmal nachgeschaut, ob er vielleicht homosexuell ist. Und das wurde dann auch nicht Vergewaltigung genannt, sondern sexuelle Unzucht. Also insofern haben wir da dieses Kategorienproblem. Dass es eine Vergewaltigung an Männern gar nicht geben konnte."
Mindestens ebenso tabuisiert ist die Tatsache, dass Frauen unter den Tätern waren und sind. Es wird ihnen schlicht nicht zugetraut, sagte Ruth Seifert, dass sie mit sexueller Gewalt vorgehen, weshalb dies ein blinder Fleck der Wissenschaft geblieben ist - bis heute, gibt Ruth Seifert zu bedenken.
"Aus einigen afrikanischen Kontexten, aus denen es Forschungen gibt, gibt es gesicherte Erkenntnisse, dass Frauen auch unter den Tätern waren. Es hält sich - das ist etwas, was mir eine ungarische Historikerin erzählt hat - in Ungarn hartnäckig das Gerücht, Rotarmistinnen hätten in Ungarn vergewaltigt. Aus einigen Kontexten wissen wir, dass Frauen beteiligt sind."

Über sexualisierte Gewalt in Syrien wird geschwiegen

Auch verwundert es, dass, obwohl der Krieg in Syrien massiv von sexualisierter Gewalt geprägt ist, manchen Beobachtern zufolge in größerem Maße als im ehemaligen Jugoslawien, kaum über diese Verbrechen gesprochen wird. Dabei gibt es heute die Resolution 1820 der Vereinten Nationen, die sexualisierte Gewalt als Kriegstaktik und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkennt.
"Ein Versuch einer Erklärung war, dass die Resolution 1820 dieses Janusgesicht hat. Nämlich, um es auf hohen politischen Ebenen aufzunehmen, insbesondere im Sicherheitsrat, den Nachweis verlangt, dass eine Kriegsstrategie vorhanden ist. Und dieser Nachweis ist natürlich ausgesprochen schwierig zu führen."
Dieses Beschweigen des Offensichtlichen hat Folgen: Syrische Opfer, aber auch Täter, fliehen – unter anderem nach Deutschland. Blauäugig und ungeprüft werden Frauen und Männer gemeinsam untergebracht, im schlimmsten Fall sind Täter und Opfer unter einem Dach. Und es fehlt an psychosozialer Unterstützung: Hier wiederholt sich, sagt Miriam Gebhardt, unsere eigene Verdrängungsgeschichte sexualisierter Kriegsgewalt. Wir tun so, als hätte man in der deutschen Geschichte mit dem Thema nie etwas zu tun gehabt.
"Wir müssen einfach uns unserer eigenen Geschichte bewusster werden. Das ist zumindest mein Anliegen. Ich glaube, nur mit einem klaren Bewusstsein der Täter- und Opferrollen damals können wir uns heute unvoreingenommener mit den aktuellen Konflikten beschäftigen."
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