Syrischer Theatermacher Mohammad Al Attar

Erzählen von der Tragödie der Heimat

Der syrische Autor Mohammad al-Attar spricht am 15.01.2016 in Hamburg auf einer Pressekonferenz zum Programm der Lessingtage 2016 im Foyer des Thalia in der Gaußstraße. Das Theaterfestival findet vom 23.01-07.02.2016 in Hamburg statt. Foto: Christian Charisius/dpa | Verwendung weltweit
Der syrische Autor Mohammad Al Attar ist einer der bekanntesten syrischen Nachwuchsdramatiker © dpa
Mohammad Al Attar im Gespräch mit Susanne Burkhardt · 26.08.2017
Im Herbst wird der syrische Regisseur Mohammad Al Attar gleich mit zwei Inszenierungen in Berlin präsent sein. Aber Syrien stehe für ihn immer im Fokus, sagt der Theatermacher, der seit Jahren im Exil lebt.
Der syrische Theatermacher Mohammad Al Attar widmet sich in seinen Arbeiten der Tragödie seiner Heimat. Er verdichtet in seinen Stücken die Erfahrungen des Krieges und was es bedeutet, sie auszuhalten. Im September soll er die neue Saison der Berliner Volksbühne unter der neuen Intendanz von Chris Dercon miteröffnen.
"Ich muss schon sagen, dass ich ein bisschen überrascht bin über die Heftigkeit dieser Debatte", sagte Al Attar im Deutschlandfunk Kultur über den Intendantenwechsel an der Berliner Volksbühne. Er kenne das Theater schon lange und habe deshalb viel Respekt für die Arbeit des früheren Intendanten Frank Castorf. Aber er kenne auch Dercon aus seiner Londoner Zeit. Zwischendurch habe er befürchtet, die Auseinandersetzung könne seine eigene Theaterarbeit überschatten.

Das Interview im Wortlaut:

Susanne Burkhardt: Er ist einer der bekanntesten syrischen Nachwuchsdramatiker. Als Theaterautor und politischer Chronist erzählt Mohammad Al Attar seit Jahren von der Tragödie seiner Heimat. In Berlin ist er im September mit gleich zwei Arbeiten anzutreffen. Im Haus der Kulturen der Welt wird er "Aleppo - das Portrait einer Abwesenheit" inszenieren. Kurz darauf wird seine Version der "Iphigenie" im Eröffnungsprogramm der neuen Volksbühne Berlin unter Chris Dercon Premiere feiern.
Vor der Sendung traf ich den Dramatiker und sprach zunächst über sein früheres Stück "Yousef Was Here". Darin erzählt er von einem jungen Fotografen, der in den befreiten Gebieten in Syrien verschwindet. Sein Freund, ein Exil-Syrer, macht sich auf die Suche nach ihm und stellt am Ende fest: Er ist seiner Heimat fremd geworden. Ich wollte von Mohammad Al Attar wissen, ob dieses Fremdheitsgefühl für ihn, der seit Jahren im Exil lebt, ob dieses Gefühl ein ihm vertrautes sei.
Mohammad Al Attar: Das ist nicht unbedingt die Konklusion, zu der er am Schluss kommt, aber es ist eine Frage, die er sich am Ende stellt: Wohin gehöre ich eigentlich. Das ist eine Frage, die sich zurzeit viele Syrer stellen. Auch ich hinterfrage das ständig. Man hinterfragt plötzlich seine Zugehörigkeit, und das ist eine sehr harte Frage, die damit zu tun hat, dass wir unter sehr harten, brutalen Bedingungen zurzeit leben, weil Revolutionen zerstören ja nicht nur physische alte Strukturen, sondern sie zerstören auch metaphysisch sehr viel, das Denken, den Glauben an etwas, und das führt eben zu ganz großen Veränderungen, und man hinterfragt plötzlich die Identität, die Zugehörigkeit.
Und der Alltag, der aus sozialen Doktrinen oder aus Religionen bestand, wird ebenfalls hinterfragt, und es gab früher unter den verschiedenen syrischen Gruppen trotz aller Unterschiede eine Form der Koexistenz, und diese ganzen einzelnen Communities sind jetzt aufgebrochen. Von daher sind das wirklich harte, aber sehr notwendige Fragen, die wir uns in Zukunft als Syrer stellen müssen.

Ich konnte diese Orte wieder verlassen

Burkhardt: Und in dem Stück begegnen wir aber auch Menschen, die dann zu ihm sagen, er schaut nur vorbei, er muss ja da nicht leben, und er sammelt jetzt ein paar Geschichten ein und kehrt zurück, und in Ihrem Fall als Autor könnte man sogar noch sagen, Sie verwerten diese Geschichten.
Al Attar: Das macht die Figur im Stück, und in gewisser Weise habe ich das auch gemacht, weil ich mich auch mit ähnlichen konfrontiere, allerdings im Unterschied zur Figur im Stück kenne ich diese Regionen dann doch ein wenig besser und habe eine etwas stärkere Bindung zu diesen Regionen, obwohl man mich dort auch als Fremden und als Beobachter wahrgenommen hat. Das war mir auch immer bewusst. Insofern ist dieser Teil der Kritik durchaus berechtigt, weil ich kann überleben, ich konnte diese Orte wieder verlassen, und andere Leute waren gezwungen, eben dort vor Ort zu bleiben. Ursprünglich stamme ich beispielsweise aus Damaskus, und ich habe meine Heimat gegen meinen Willen verlassen.
Trotzdem bin ich immer mit Syrien beschäftigt. Syrien ist immer bei mir im Fokus. Der Nachteil ist, dass man einen Bezug zum Alltag verloren hat, nicht mehr ganz genau weiß, was vor Ort wirklich geschieht, was die Menschen dort erleben. Das Positive allerdings an diesem Exil oder dieser Form des Exils ist, dass man einen anderen Blickwinkel bekommt, dass man eine andere Perspektive einnimmt, und insofern ist dieser Prozess der Selbstbefassung mit sich selbst und mit seinem Verhältnis zu Syrien ein Prozess, der immer weitergeht.
Burkhardt: Sie sind einer der Protagonisten beim Start der neuen Volksbühne in der Intendanz von Chris Dercon. Sie zeigen Ihre Version der "Iphigenie" nach Euripides. Sie haben mit 40 syrischen Frauen gesprochen, syrische Frauen, die in Berlin leben, und zehn davon werden jetzt auch auf der Bühne zu sehen sein und ihre Geschichten erzählen. Was können die Zuschauer hier in Berlin in Deutschland von den Erfahrungen der Flüchtlinge lernen?
Al Attar: Ich verstehe natürlich Ihre Frage, aber ich würde nicht das Wort lernen benutzen. Ich will auch keine Botschaften mitteilen, sondern ich möchte eine Erfahrung teilen, eine Diskussion anstoßen. Und da geht es nicht darum, bereits eine vorgefasste Meinung unter die Zuschauer zu bringen, sondern ich suche den Dialog mit dem Publikum, und ganz ehrlich: Das Publikum soll mein Stück in erster Linie auch erst einmal genießen. Es soll wissen, dass es seine Zeit nicht verschwendet.
Was ich letztendlich ausdrücken möchte mit meiner Arbeit, ist, dass wir uns viel näher sind als wir glauben. Wir müssen nur ein bisschen genauer hinschauen, und auch in unseren Kämpfen ähneln wir eigentlich einander. Das, was die Syrer zurzeit durchmachen, das ist nicht nur eine regionale Tragödie, sondern es ist ein Teil, etwas Organisches, was derzeit die Welt heimsucht, und ich würde es einen sehr dunklen Moment der Geschichte beschreiben, und das betrifft nicht nur Syrien, das betrifft all die Wahlen, die zurzeit stattfinden. Wer gewinnt diese Wahlen oder wer ist kurz davor, diese Wahlen zu gewinnen. Insofern ist Syrien zurzeit eine Art Spiegel, der die düstere Realität unserer Welt aufzeigt.
Ein Mädchen geht durch eine zerstörte Straße in der Stadt Ayn Tarma in der Region Ghouta östlich von Damaskus.
Ein Mädchen geht durch eine zerstörte Straße in der Stadt Ayn Tarma in der Region Ghouta östlich von Damaskus.© AFP / Abdulmonam Eassa

Der Mensch ist einfach sehr viel komplexer

Burkhardt: Es gab in den letzten Monaten ganz viele Versuche von Theatern, die syrische Tragödie oder die Flüchtlingstragödien auf die Bühne zu bringen. Sie haben in einem Gespräch den Begriff Leidensporno verwendet und gesagt, das ist genau das, was Sie eben nicht produzieren wollen. Wie schafft man das, sozusagen von der syrischen Tragödie zu erzählen, einem Publikum in einer komfortablen Situation, ohne so einen Leidensporno, wie Sie das genannt haben, zu produzieren?
Al Attar: Der Ausgangspunkt muss ganz klar sein, dass man sich von Beginn an der Arbeit klar ist, hier geht es nicht um Flüchtlinge. In diese Falle kann man dann einfach nicht mehr hineinfallen. Natürlich wird es immer wieder Leute geben, die einen in Schubladen packen, die es gut meinen und die dann von dem Künstler reden, der im Exil arbeitet, von den Flüchtlingen, die jetzt als Schauspieler arbeiten, die jetzt Darsteller sind, aber das ist überhaupt nicht unser Thema gewesen. Der Mensch ist einfach sehr viel komplexer.
Man kann ihm nicht nur ein Adjektiv aufdrücken, und deswegen geht es wieder darum, etwas ganz anderes letztendlich, etwas sehr viel Tieferes damit darzustellen, und dieser Text ist eben auch eine Arbeit vieler Diskussionen, streckenweise auch von Kämpfen und dann auch, wo verschiedenste Überzeugungen aufeinandergeprallt sind. Es ist hier sehr, sehr wichtig, dass man etwas anderes tut als immer nur über die Opfer zu reden, und genau das war mein Problem, was ich streckenweise mit anderen Arbeiten hatte. Das ist dann einfach nur eine überschwängliche Art, emotional sich damit auseinanderzusetzen, aber das ist hier überhaupt nicht unser Anliegen, und wir wollen eigentlich etwas sehr viel Tieferes erreichen und auch ganz andere Probleme anstoßen, die es natürlich gibt, und die über diese Flüchtlingsfrage hinausgehen.
Burkhardt: Und mit diesen dringenden Themen, die Sie bearbeiten, sind Sie in einen Kulturkampf geraten, den zwischen den Anhängern der Volksbühne unter Frank Castorf und der neuen Berliner Volksbühne unter Chris Dercon. Hatten Sie eine Ahnung davon, als Sie sich verabredet haben für diese Produktion, in welcher Weise sich dieser Streit entwickeln könnte?
Al Attar: Wir arbeiten zwar mit der Volksbühne, aber wir sind nicht Teil der Volksbühne, sondern wir haben unsere eigene Arbeit entwickelt. Ich muss schon sagen, dass ich ein bisschen überrascht bin über die Heftigkeit dieser Debatte. Ich befürchte, dass das ein wenig unsere Arbeit überschatten könnte. Ich kann dazu nur sagen, ich bin kein Berliner, aber ich kenne die Volksbühne schon seit Langem, auch aus meiner Zeit, als ich noch in Damaskus gelebt habe.
Deswegen habe ich sehr viel Respekt für die Arbeit von Castorf, aber ich habe auch in London, habe dort meinen Master gemacht, und war auch in der Tate, kenne daher auch Dercon. Ich kenne sie beide aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Aber als Syrer, der hier arbeitet und der etwas über die komplizierte Situation in seiner syrischen Heimat mit seiner Arbeit ausdrücken möchte, kann ich nur sagen, mich hat diese Heftigkeit der Debatte, die streckenweise doch sehr aggressiv geführt wurde, doch sehr überrascht.

Besitzer dieser Zeugenaussage

Burkhardt: Mohammad Al Attar, Syriens derzeit erfolgreichster junger Dramatiker, 37 Jahre ist er alt und hier zu Gast in "Rang 1", dem Theatermagazin. Herr Al Attar, das Haus der Kulturen der Welt beginnt Mitte September eine dreiteilige Vortragsreihe. "Why are we here now" ist diese Vortragsreihe überschrieben, und Ihr Thema ist Aleppo, das Porträt der Abwesenheit, und darin sprechen Einwohner über Orte in Aleppo, die ihnen besonders am Herzen liegen, und eine wichtige Rolle, das habe ich aus dem Ankündigungstext entnommen, spielen darin Begriffe wie Verlust, Abwesenheit oder Exil. Was genau wird denn gezeigt?
Al Attar: Zehn deutsche Schauspieler werden als Erzähler auftreten und jeweils eine Zeugenaussage aufführen, aber in einer ganz besonderen Art und Weise, weil jeder Schauspieler wird nur einem einzigen Teilnehmer aus dem Publikum das vorlesen. Das heißt, es ist eine Eins-zu-Eins-Situation. Das ist dann eine sehr intensive Beziehung, die der Erzähler hat. Er ist sozusagen auch der Besitzer plötzlich dieser Zeugenaussage. Das ist eine andere Form der Interaktion, eine sehr experimentelle Form des Theaters, was bei mir sehr, sehr selten ist.
Normalerweise habe ich doch einen sehr konventionellen Zugang zum Theater und auch zum Text auf der Bühne. Aber die Beschäftigung mit dem Material hat dazu geführt, dass ich immer wieder umgedacht und neu gedacht habe, weil es so viele Schichten gibt bei diesen Zeugenaussagen. Sie sind sozial, politisch, historisch, wirtschaftlich und so viel vielschichtiger als alles, was man sonst kennt. Meine Hoffnung ist, dass wir eine neue Landkarte von Aleppo zeichnen können, in der es nicht nur um Krieg, Zerstörung, Terrorismus, Militär geht, sondern wir wollen zeigen, diese Stadt lebt nach wie vor.
Die Erinnerung an Aleppo ist lebendig. Wir hatten einen Traum oder wir hatten diesen starken Wunsch, dass diese schreckliche Diktatur überwunden wird durch eine Form der echten Demokratie. Dieser Traum ist zerbrochen aus ganz verschiedenen Gründen, aber was wir nicht aufgeben werden, ist das Narrativ. Deswegen haben wir uns auch dafür entschieden, dass das hier Erzähler sind, die dieses Narrativ bewahren, und wir haben auch ganz bewusst darauf verzichtet, hier irgendwelche Bilder zu zeigen. Es sollen wirklich nur die Worte der Erzähler übrig bleiben, weil das, was wir haben, diesen Schatz, den wir wahren müssen, das sind die Geschichten, und diese Geschichten sind noch lange nicht tot.
Burkhardt: Mohammad Al Attar, thank you very much!
Al Attar: Thank you very much!
Burkhardt: Das sagt der syrische Dramatiker Mohammad al Attar. Seine Arbeiten sind demnächst in Berlin zu erleben: Im Haus der Kulturen der Welt zeigt er die Performance "Aleppo - das Portrait einer Abwesenheit" vom 21. bis 23. September. Seine Version der Euripides-Iphigenie hat am 30. September Premiere am Flughafen Tempelhof, einer neuen Spielstätte der Berliner Volksbühne. Das Gespräch mit ihm hat Jörg Taszman übersetzt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen. (gem)
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