Svenja Leiber: "Staub"

Ein Leben auf Sand gebaut

Svenja Leiber: Staub
Der Versuch, einen neuen Blick, eine neue Haltung zu gewinnen: Svenja Leibers neuer Roman "Staub" © Suhrkamp/ Unsplash
Von Carsten Hueck · 20.03.2018
Svenja Leiber erzählt in "Staub" die Geschichte des traumatisierten und medikamentenabhängigen Arztes Jonas Blaum, der als Erwachsener nach Saudi Arabien zurückkehrt, wo er in Riad seine Kindheit verbrachte. Virtuos verschränkt Leiber in ihrer Erzählung Vergangenheit und Gegenwart.
Wer die Übersicht hat, kann sich orientieren, ein Ziel ins Auge fassen, einer Richtung folgen. Was aber, wenn Staub sich über Jahre auf der Netzhaut abgelagert hat, wenn klare Perspektiven unmöglich sind und man sich nur tastend bewegen kann?
In "Staub", dem neuen Roman der 1975 geborenen Autorin Svenja Leiber, geht es um den Versuch, einen neuen Blick, eine neue Haltung zu gewinnen - zu Dingen und Menschen, zu sich selbst, seiner Kultur und Herkunftsfamilie.
Kann ich ein anderer sein und wer entscheidet das? Kann ich mich erneuern und kann ich den Kategorisierungen von außen entkommen? Diesen Fragen folgt die Autorin mit Sensibilität und Konzentration, außergewöhnlicher Sprachkraft und beeindruckender Souveränität, eine Hochseilakrobatin ohne Netz.

Jonas als die Widerlegung des stolzen Europäers

Figuren, Landschaften und Motive des Romans spiegeln und durchdringen einander. Der Vater des Ich-Erzählers Jonas Blaum, Arzt, sozial engagiert und verschuldet, sah die Möglichkeit im Saudi Arabien der 1980er Jahre ein Krankenhaus zu leiten. Er zog mit Frau und drei Kindern nach Riad. Ein stiller Melancholiker, Gastarbeiter im Reich der Scheichs, dessen Idealismus bald versandete.
2014 reist Jonas Blaum, inzwischen erwachsen und Arzt wie sein Vater, ebenfalls in den Orient. Das "imperativische Glück" im Westen ist er leid, dabei ohne Job, beziehungsunfähig und medikamentenabhängig. Ein ehemaliger Junkie, der es immer wieder schafft, von seinen Geliebten verlassen zu werden. Die personifizierte Widerlegung des stolzen Europäers.
Jonas wohnt in Amman bei einem muslimischen Freund aus Berliner Studientagen. Er lernt ehemalige Mujahedin kennen und ein krankes Kind, das wie ein Greis aussieht. Atmosphäre und Begegnungen wecken Erinnerungen an die eigene Kinderzeit in Saudi Arabien, das Jonas' Familie nach einem traumatischen Vorfall damals fast fluchtartig wieder verlassen hatte.

Ein literarisch, menschlich und politisch bedeutsames Buch

Berlin, Amman, Riad, Wenden – das sind die Schauplätze des Romans. Wenden, Jonas' Heimatstadt, trägt zwar einen Namen, könnte aber sowohl in Niedersachen, im Sauerland oder in Baden Württemberg liegen.
Wo kommt er also her, der Jonas Blaum, wo will er hin? Das Leben erscheint ihm als Rad – ohne Halt, ohne Kategorien. Das arabische Kind mit dem Gendefekt erinnert ihn an sein jüngstes Geschwisterkind Semjon: mit dreieinhalb erst hatte es zu sprechen begonnen, imaginierte ständig die Begleitung durch eine Schafherde, trug müde einen riesigen Kopf, war Mädchen, das behauptete, ein Junge zu sein. Semjon war anders – aber von welchem Standpunkt aus?
Die neue Geschichte spiegelt die alte, das arabische Kind geht verloren, wie einst Semjon, und Jonas kann es nicht retten. Vergangenheit und Gegenwart verschränken sich ungeheuer dicht in diesem Roman und Svenja Leiber eröffnet dem Leser durch die Wahrnehmungen und Erfahrungen ihres Protagonisten die Möglichkeit, starre Vorstellungen fahren zu lassen, scheinbar Gegensätzliches zu verschmelzen. Das macht ihr Buch literarisch, menschlich und politisch bedeutsam.
Die Teilung von Orient und Okzident löst sich auf im Staub des Lebens. Berlin ist auf Sand gebaut wie Amman oder Riad, Nichtwissen und Irren, Liebe und Leid gibt es hier wie dort, auch Leben und Tod. Der Mensch ist Staub und das Leben vielleicht ein Sandsturm. Wer das erkennt, kann sich plötzlich neu verstehen.

Svenja Leiber: Staub
Berlin, Suhrkamp, 2018
242 Seiten, 22,00 Euro

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