Svenja Flaßpöhler über weibliche Selbstermächtigung

"Frauen werden in der Opferrolle festgeschrieben"

Graffiti an einer Hauswand
"Dieses Bild, die Frau ist irgendwie lustlos und weiß irgendwie nicht so, das stimmt nicht mehr so", sagt Svenja Flaßpöhler. © imago/Steinach
Von Svenja Flaßpöhler · 03.05.2018
In der #MeToo-Debatte würden pauschal Männer in die Täterrolle gedrängt, kritisiert die Philosophin Svenja Flaßpöhler – von Frauen werde hingegen keine Mündigkeit erwartet. In ihrem Buch "Die potente Frau" ruft sie dazu auf, sexuelles Begehren selbst zu formulieren.
Dieter Kassel: Viel ist darüber diskutiert worden im Zuge der #MeToo-Debatte, dass Männer ihre Einstellung gegenüber Frauen verändern müssen, um nicht zu Tätern zu werden, und dass Männer eigentlich aufhören sollten, Frauen als permanentes sexuelles Angebot zu sehen, über dessen Annahme sie ganz allein entscheiden. Darauf kann man sich, glaube ich, relativ schnell einigen. Schwieriger ist dann schon die Frage, inwieweit auch Frauen ihre Einstellung zu ihrer eigenen Sexualität verändern sollten. Dieser schwierigen Frage stellt sich aber die Philosophin Svenja Flaßpöhler, Chefredakteurin des "Philosophie Magazin" in ihrem neuen Buch "Die Potente Frau". Es ist gestern erschienen, und heute ist Svenja Flaßpöhler bei uns im Studio. Schönen guten Morgen!
Svenja Flaßpöhler: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Anlass für dieses Buch ist natürlich die #MeToo-Debatte, das sagen Sie auch in der Einleitung. Aber was genau hat Sie an dieser Debatte so sehr gestört, dass Sie diese Streitschrift quasi verfassen mussten?
Flaßpöhler: Mich stört die mangelnde Differenzierung der Debatte, die sträfliche Generalisierung der Debatte. Frauen werden pauschal in die Opferrolle gestellt, gedrängt, in der Opferrolle festgeschrieben, Männer pauschal in der Täterrolle. Das ist mir zu einfach, das ist mir unterkomplex für die Beschreibung unserer Gegenwart, die eben kein Patriarchat mehr ist im rechtlichen Sinne. Insofern ist es einfach falsch, zu behaupten, Frauen werden von Männern unterdrückt. Was mich vor allem aber stört, ist, dass von Frauen keine Mündigkeit erwartet wird.
Kassel: Es ist wörtlich gemeint, dieser Titel, "Die potente Frau", es geht um sexuelle Potenz.
Flaßpöhler: Richtig.
Kassel: Mir ist ehrlich gesagt erst, als sie von der der Frauen geschrieben haben in dem Buch, aufgefallen, dass auch ich eigentlich bei sexueller Potenz bisher immer an Männer gedacht habe.

"Das männliche Begehren ist allgegenwärtig"

Flaßpöhler: Ja. Die Potenz ist absolut männlich konnotiert. Der Mann ist sexuell potent, aber auch existenziell potent. Er weiß, was er will, er kämpft für das, was er will. Der Frau wurde die sexuelle Potenz, also ein sexuelles Begehren, kulturgeschichtlich überhaupt nicht zugeschrieben. Im 19. Jahrhundert ist das sehr deutlich zu beobachten, dass zum Beispiel Freud schreibt, dass die Formulierung "weibliche Libido" jegliche Rechtfertigung vermisst. Jacques Lacan spricht später davon, dass die Frau alles, was sie eigentlich auszeichnet, in die Maskerade zurückbannt, um für den Mann also dieses Fetischobjekt darzustellen. Das heißt, die Frau hat kein eigenes Begehren, sondern sie existiert quasi nur als Spiegel, um dem Mann seine Herrlichkeit, seine Grandiosität zu spiegeln. Und meines Erachtens entdeckt man genau das jetzt auch wieder, wenn Frauen im Zuge von #MeToo über ihre sexuellen Erfahrungen sprechen oder über Machterfahrungen sprechen. Das männliche Begehren ist omnipotent und allgegenwärtig, und das weibliche ist eigentümlich abwesend.
Kassel: Wobei man da natürlich nicht vergessen darf, dass fast alles, was im Zuge der #MeToo-Debatte jetzt berichtet wird und was ans Tageslicht kommt oder was behauptet wird, ja Jahrzehnte zurückliegt. Glauben Sie wirklich, das ist grundsätzlich aber alles immer noch so, was die Sexualität der Frauen und auch die Selbstwahrnehmung angeht?
Flaßpöhler: Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Es fällt tatsächlich auf, dass die Protagonisten, also die Männer, die jetzt wirklich im Fokus der Debatte stehen, das sind vornehmlich alte Männer. Die Fälle stammen aus den 80er- und 90er-Jahren, das darf man überhaupt nicht vergessen, dass es da eine große zeitliche Differenz gibt, in der sich sehr viel getan hat. Das bestätigen auch Sexualtherapeuten. Wir haben im aktuellen Heft des "Philosophie Magazins" den Ulrich Clement interviewt, der ganz klar sagt, dass sich die Realität wahnsinnig verändert, dass sich auch die Männer wahnsinnig verändert haben, die Frauen wahnsinnig verändert haben, also dass so dieses Bild, die Frau ist irgendwie lustlos und weiß irgendwie nicht so, das stimmt nicht mehr so.
Gleichzeitig sagt er aber auch, und das ist interessant, dass er schon sagt, dass es nach wie vor so ist, dass Frauen eigentlich sexuell immer noch weniger wissen, was sie wollen, als Männer, in auffälliger Weise weniger wissen, was sie wollen. Und ich finde, dass das tatsächlich auffällt. Es ist ja in der Tat so, dass von Frauen eigentlich nichts erwartet wird in dieser Debatte. Es wird alles vom Staat und von den Männern erwartet, aber nichts von den Frauen. Frauen müssen nicht in die Selbstreflexion gehen, es gibt keine weibliche – um es mal so mit Sloterdijk zu sagen –, Vertikalspannung in der ganzen Debatte. Und vor allem finde ich, dass der Begriff der Autonomie eigentlich wirklich ad absurdum geführt wird. Es wird ja immer wieder gesagt, Frauen haben ja keine Chance, wenn sie von einem mächtigen Mann irgendwie Avancen bekommen und der sie aufs Hotelzimmer einlädt oder ihr nachts eine SMS schreibt, dann haben sie ja keine Chance, weil dann würden sie ja das Risiko eingehen, eventuell ihren Job oder ihr Praktikum oder ihr Volontariat zu verlieren. Aber genau der Begriff der Autonomie und der Mündigkeit meint doch genau das. Ich gehe ein Risiko ein, ich bin selbstbestimmt, ich setze mich über Hindernisse und Widerstände hinweg. Und indem man Frauen das nicht zutraut und Frauen das auch von sich selbst gar nicht erwarten, infantilisieren sie sich selbst.
Kassel: Mir ist natürlich beim Lesen des Buches und auch gerade eben wieder, als Sie das erzählt haben, so eine ganz einfache Szene durch den Kopf gegangen, die es in mehreren Filmen gibt und Romanen, wo eine Frau mit einem Mann beim Essen sitzt, der eigentlich die Absicht hat, Sex mit ihr zu haben, aber mitten im Essen sagt die Frau, komm, ich möchte mit dir schlafen, lass uns das nicht so kompliziert machen. Wo gehen wir denn jetzt hin? In der Regel kommt es dann nicht zum Geschlechtsverkehr an diesen Stellen, weil die Männer total verunsichert sind. Und ich glaube, das wäre in der Realität auch wirklich so. Wäre so eine Verunsicherung der Männer durch ein starkes sexuelles Selbstbewusstsein von Frauen aus Ihrer Sicht Teil des Problems oder eher sogar schon Teil der Lösung?

"Verführen und nicht nur verführt werden"

Flaßpöhler: Ich glaube, das wäre Teil der Lösung. Das meine ich eben auch mit weiblicher Potenz, dass Frauen wirklich in die Aktivität kommen, dass sie selbst verführen und nicht nur verführt werden. Das hätte auch den entscheidenden Vorteil, dass die Geschlechter mal wüssten, wie sich die jeweils andere Position anfühlt. Das Problem ist ja, Männer sind eigentlich kulturell darauf festgeschrieben, sie machen den ersten Schritt, sie sind die Verführer. Frauen lassen sich verführen oder wehren ab – nein heißt nein, das hat ja auch eine kulturgeschichtlich lange Tradition. Die Sexualität der bürgerlichen Frau hat sich ja herausgebildet über das Neinsagen. Das kann man schon bei Rousseau sehr schön nachlesen. Insofern ist auch dieser Satz "Nein heißt nein", das ist natürlich ein Ausdruck von weiblicher Selbstbestimmung. Aber das Patriarchat spricht eben auch aus diesem Satz.
Die Sexualität der Frau ist das Nein, die Negativität, das Nichts. Und da rauszukommen und wirklich in die Aktivität zu kommen und in die Verführung zu kommen, das, glaube ich, ist eine riesige Herausforderung, und natürlich ist das schwierig, weil die verführerische Frau kulturgeschichtlich ja immer pathologisiert wurde, im Zweifelsfall wie Medusa auch enthauptet, das ist sicher so. Aber es ist so, wir leben rechtlich gesehen nicht mehr im Patriarchat, wir leben faktisch noch nicht in einer gleichberechtigten Gesellschaft. Aber für das Faktische sind eben auch die Individuen mitverantwortlich, ganz entschieden, und auch die Frauen.
Kassel: Ich überspringe jetzt ungefähr 75 Fragen, die ich noch an Sie hätte. Es ist ein erstaunlich kurzes Buch, dafür geht mir dann durch den Kopf, dass mir so viele Fragen einfallen. Man kann das Buch nachlesen, gleich auch noch ein Hinweis, aufs Neue, "Philosophie Magazin", sie haben es erwähnt, da ist das auch Schwerpunktthema, kommt nächste Woche raus. Das war er damit, der Hinweis. Nächsten Mittwoch kommt es raus.
Aber mir ist eine Sache durch den Kopf gegangen: Auch, wenn Sie natürlich sagen, das Ende von wirklich von all dem, worüber wir reden, wie auch das Ende der Verführung und andere Dinge – ist nicht diese Sehnsucht danach, dass alles zum Beispiel einerseits durch noch eindeutigere Gesetze zu ändern, andererseits sich fast zu wünschen, am Arbeitsplatz sind wir alle keine sexuellen Wesen, da darf das keine Rolle spielen. Ist das nicht auch so eine allgemeine Sehnsucht in unserer westlichen Gesellschaft nach so einer verordneten merkwürdigen Sicherheit? Passt das nicht auch in diesen Topf mit Helikoptereltern, Leuten, die jedes Nahrungsmittel, das ein bisschen dick macht, verbieten wollen, und, und, und. Passt das nicht rein, dass wir sagen, ich möchte mich nicht selbst drum kümmern, ich möchte, dass dafür gesorgt wird, dass ich immer sicher bin?
Flaßpöhler: Genau. Das meine ich eben mit der fehlenden Mündigkeit. Da wird im Grunde genommen alles an Gesetze, an Reglements delegiert. Aber eine liberale Demokratie lebt von der Mündigkeit der Individuen. Das ist ganz entscheidend. Und in dem Augenblick, wo wir Frauen diese Mündigkeit nicht mehr zutrauen, sondern wo wir – ich spiele jetzt mal an auf diesen WDR-Fall, der ja gerade auch heiß diskutiert wird …
Kassel: Es gibt schon zwei, glaube ich, inzwischen.
Flaßpöhler: Zwei, genau. Wo wir Frauen wirklich sozusagen noch in ihrer krassesten Naivität decken. Da ist die liberale Demokratie tatsächlich in Gefahr, weil, wie man jetzt ja beim WDR sieht, da werden jetzt reihenweise Männer freigestellt, weil sie eventuell vielleicht irgendwie sexuell belästigt haben. Wobei noch immer die Frage ist, was ist eigentlich genau sexuelle Belästigung. Das heißt also, wir müssen die Mündigkeit, wir müssen die Potenz der Individuen stärken, wir müssen die Frau in die Selbstermächtigung bringen. Und wenn wir alles nur daransetzen, die Frau zu schützen, wie Kinder, dann denke ich, ist tatsächlich die liberale Demokratie in Gefahr.
Kassel: Man kann das – nein, man kann das nicht alles nachlesen. Wir haben teilweise über ganz andere Dinge auch ein bisschen geredet, aber im Kern, diese These von der potenten Frau in dem gleichnamigen Buch von Svenja Flaßpöhler nachlesen. Ist als Streitschrift gerade gestern im Ullstein-Verlag erschienen, dort erhältlich – "Philosophie Magazin" habe ich erwähnt, nächste Woche zu diesem Thema das neue. Und ich danke Ihnen sehr. Mich hat das jetzt schon wieder so ein bisschen nachdenklich gemacht. Ich werde jetzt über meine Männerrolle nachdenken – das wollen Sie doch. Darum geht es Ihnen doch …
Flaßpöhler: Natürlich, auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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