Superwahljahr 2009 - Wählen oder nicht?

Gäste: Gabor Steingart / Journalist und Prof. Dr. Werner Patzelt / Politikwissenschaftler an der Technischen Universität Dresden · 28.03.2009
So viel Wahlkampf war noch nie in einem Jahr: Bei insgesamt 16 Wahlen können wir 2009 unsere Stimme abgeben, darunter fünf Landtagswahlen, mehrere Kommunalwahlen, die Europawahl - und als Höhepunkt - die Bundestagswahl am 27. September.
Dann geht es um die Wurst: Rund 62 Millionen Wähler entscheiden mit ihrer Stimme, wer Deutschland in den kommenden vier Jahren regieren wird. Doch von dieser Wahlmöglichkeit machen immer weniger Bürger Gebrauch: Lediglich 77,7 Prozent gaben bei der letzten Bundestagswahl im Jahr 2005 ihre Stimme ab - der bisher niedrigste Stand bei freien Wahlen seit 1949.

Ginge es nach Gabor Steingart, würden noch mehr Bürger zu Hause bleiben - der Journalist ruft in seinem neuesten Buch "Die Machtfrage. Ansichten eines Nichtwählers" offen zum Wahlboykott auf:

"Nichtwählen ist eine sehr politische Reaktion, die auch vorgesehen ist von unseren Grundgesetzvätern, für den einen Fall nämlich, dass einem das Angebot insgesamt nicht passt, dass einem vor allem die Spielregeln nicht passen, und ich bin bekennender Nichtwähler, weil ich glaube, nur so können wir die derzeit knappste Ware in unserem politischen Betrieb erzeugen, nämlich Nachdenklichkeit über die Spielregeln. Unsere Spielregeln erlauben keine wirklich direkte Demokratie."

Steingart, der derzeit das Büro des "Spiegel" in Washington leitet, will mit seinem Buch auf die Erstarrung unseres politischen Systems aufmerksam machen: Unsere Demokratie werde nicht durch äußere Feinde bedroht, sondern durch die Erschlaffung der Politiker, die Überalterung der Parteien, die längst nicht mehr die Gesellschaft widerspiegelten. Visionen, Wettstreit um die besten Ideen - Fehlanzeige, gesellschaftliche Begeisterung wie zu Zeiten von "Willy wählen" - längst passé. Allerorten sei ein Verlust demokratischer Leidenschaft zu bemerken:

"Die schweigende Mehrheit des Volkes hat sich von den Parteien abgewandt, weil diese sich vom Volk entfernt haben."

Ändern, so glaubt er, könne man dies nur durch Wahlenthaltung.

"Es gibt keine Wahlpflicht, jeder ist frei, zu wählen oder nicht und seine Motive bekannt zu geben", kontert Prof. Dr. Werner Patzelt. Der Politikwissenschaftler von der Technischen Universität Dresden erforscht seit langem das Wahlverhalten der Deutschen und auch die viel beschworene Politikverdrossenheit.

Bereits 2001 machte er in einem Artikel in der Wochenzeitschrift "Die Zeit" auf die wachsende Kluft zwischen Politikern und Bürgern aufmerksam: Mehr als die Hälfte der Befragten in den neuen Bundesländern und gut ein Drittel in den alten Bundesländern meinten, das politische System in Deutschland funktioniere nicht gut, nur die Hälfte glaube, dass sich die Probleme mit Hilfe der Demokratie lösen lasse, jeder zweite halte Politiker für Lügner.

Seine Analyse: Die Menschen haben zu wenig Ahnung über das politische System - dieses Nichtwissen führe zu Ablehnung und Frust über die Politik und die Politiker.

An diesen Zahlen habe sich bis heute nichts Grundlegendes geändert. Im Gegenteil: Durch die Folgen der Wiedervereinigung sei der Frust über "die da oben" gestiegen. Politik sei derzeit "wenig sexy", sie mache mehr Spaß, wenn Geld in Hülle und Fülle da sei - diese goldenen Zeiten seien aber vorbei.

Der Politikforscher sieht in all dem aber auch eine Chance. Während viele Wähler sich bang fragen, wen und was sie in diesem Jahr nur wählen sollen, kann Patzelt auch dieser Unsicherheit etwas Gutes abgewinnen:

"Das ist doch schön! Die Zeiten, wo alles fest gefügt war, wo man einen schwarz angestrichenen Besenstiel wählen konnte, sind vorbei. Jetzt können wir Entscheidungen treffen. Jetzt hat der Bürger die Chance zum rationalen Wähler zu werden und die kann er nutzen oder nicht. Nur in Wirklichkeit will er es ja einfach haben."

Viele machten ihr Kreuzchen einfach irgendwo, sie spielten Roulette in der Wahlkabine - deshalb sei der Fetisch Wahlbeteiligung auch viel zu hoch bewertet.

"Seit Jahrzehnten liegt die Zahl derer, die sich als politisch interessiert bezeichnen, bei um die 50 Prozent. Das ist der Eichstrich für die Wahlbeteiligung und jeder Prozentpunkt mehr ist gut."

Seine Überzeugung: "Die Demokratie wird nicht dadurch abgeschafft, dass die Leute nicht wählen gehen."

"Superwahljahr 2009 - Wählen oder nicht?" Darüber diskutiert Dieter Kassel heute gemeinsam mit dem Journalisten Gabor Steingart und dem Politikwissenschaftler Werner Patzelt. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der kostenlosen Telefonnummer 00800 / 2254 - 2254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.


Informationen im Internet:
über Gabor Steingart
über Prof. Dr. Werner Patzelt

Literaturhinweis:
Gabor Steingart, Die Machtfrage. Ansichten eines Nichtwählers, Piper Verlag 2009