Suizidprävention mit Künstlicher Intelligenz

Big Brother passt auf Häftlinge auf

18:48 Minuten
Haftraum im Hafthaus Ummeln der Justizvollzugsanstalt Senne.
Überwachung im Gefängnis: In Nordrhein-Westfalen könnten Zellen schon bald mit Künstlicher Intelligenz überwacht werden, um Suizide zu verhindern. © Imago / ecomedia / Robert Fishman
Peter Biesenbach im Gespräch mit Nana Brink · 08.07.2020
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Suizide in Gefängniszellen sollen in Nordrhein-Westfalen mit Künstlicher Intelligenz verhindert werden. Eine Software soll auffälliges Verhalten oder gefährliche Gegenstände erkennen und Alarm schlagen, schwebt Justizminister Peter Biesenbach vor.
Künstliche Intelligenz soll in Gefängniszellen aufpassen, dass sich die Insassen von Justizvollzugsanstalten nicht umbringen. Dazu sollen in Nordrhein-Westfalen Hafträume mit Videokameras ausgestattet werden, die Bilder werden von einer Software auf gefährliche Gegenstände oder auffälliges Verhalten analysiert.
Das sei kein Zukunftsthriller, sagt der nordrhein-westfälische Justizminister Peter Biesenbach. "Wir nutzen die Möglichkeiten der Technik". Bis jetzt sei es so, dass Gefangene, bei denen befürchtet wird, sie könnten Suizid begehen, in Abständen von 15 Minuten überwacht werden. Das sehe so aus, dass auch nachts die Klappe der Tür aufgehe, das Licht an, die Klappe zu und dann sei der Gefangene wach und schlafe nur sehr unregelmäßig.
NRW-Justizminister Peter Biesenbach.
NRW-Justizminister Peter Biesenbach.© Imago / Sven Simon
"Ich halte das für unangemessen und für sehr nachteilig für den Betroffenen", sagt Biesenbach. "Ich stelle mir vor, dass das System, das wir gerade erproben, den Gefangenen in Ruhe schlafen lässt, denn die Technik passt auf, dass er keine Handlungen vornimmt, die Vorbereitungen für den Suizid sind."

Anspruch auf Einzelzelle

Die Kamera sei zwar geschaltet, aber solange der Gefangene keine solchen Vorbereitungen unternehme, passiere auch nichts. Auch der Bildschirm in der Überwachungszentrale sei ausgeschaltet, sodass niemand in diesen Momenten sehe, was in der Zelle geschieht. Der Algorithmus schlage erst Alarm, wenn eine solche Handlung vorgenommen wird. Erst dann gebe es ein Bild auf dem Bildschirm und es kann eingegriffen werden.

Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen, Suizidgefährdete und ihre Angehörigen: Wenn Sie sich in einer scheinbar ausweglosen Situation befinden, zögern Sie nicht, Hilfe anzunehmen. Hilfe bietet unter anderem die Telefonseelsorge in Deutschland unter 0800-1110111 (kostenfrei) und 0800-1110222 (kostenfrei) oder online unter https://www.telefonseelsorge.de. Eine Liste mit bundesweiten Beratungsstellen gibt es unter https://www.suizidprophylaxe.de/hilfsangebote/adressen.

Eine soziale Kontrolle durch Mithäftlinge werde von Gefangenen möglicherweise auch abgelehnt. Zum einen habe jeder Häftling Anspruch auf eine Einzelzelle, zum anderen wisse man nicht, ob oder wann sich ein befürchteter Suizid bewahrheitet.
"Das erste Jahr in der Haft ist ein kritischer Zeitraum, in dem wir so einen Peak haben. Wir hatten in der letzten Zeit auch immer in den Monaten vor der Entlassung erstaunlich viele Suizide, die wir uns nicht erklären können", sagt Biesenbach. Daher könne man Gefangene nicht monatelang in Notgemeinschaften unterbringen.

Praxistest im nächsten Jahr

Die Zahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen in Gefängnissen steige deutlich erkennbar, so der Justizminister. Festgestellt worden sei, dass mit stärkerem Drogenkonsum, die Zahl der Häftlinge mit psychischen Störungen deutlich zunehme. "Die Menschen kommen mit deutlich schweren Störungen und psychischen Erkrankungen in die Anstalten hinein."
In der Künstliche Intelligenz sieht Biesenbach kein Allheilmittel. Sie würde andere Maßnahmen nicht ersetzen: "Wir haben die Präventionsmaßnahmen deutlich erhöht. Wir haben in den Anstalten Suizidbeauftragte eingestellt, die die Aufgabe haben, dafür zu sorgen, dass Gefangene nicht in die Situation kommen, sich umzubringen."
Auch solle Telemedizin als Unterstützung für die Mitarbeiter im Vollzugsdienst genutzt werden. Damit sei im Hintergrund eine Hilfe da, um auf erkennbare Anzeichen reagieren zu können.

Besuch bei den Software-Entwicklern

Allerdings, gibt Biesenbach auch zu, lässt sich nicht jeder suizidgefährdete Häftling seine Absicht vorher anmerken, und nicht jeder stille Häftling sei suizidgefährdet. Ob die Künstliche Intelligenz Abhilfe schaffe, könne erst bei einem Test festgestellt werden. "Ich hoffe, dass wir Anfang des nächsten Jahres soweit sind, dass wir es ausprobieren können", sagt Biesenbach.
Bundesweit begehen jährlich 50 bis 100 Gefängnisinsassen Suizid. Die neue Software, die dies in Nordrhein-Westfalen verhindern soll, wird von einer Softwarefirma in Chemnitz entwickelt.
Nach dem Gespräch mit dem nordrhein-westfälischen Justizminister Peter Biesenbach hören Sie im Audio auch Alexandra Gerlachs Beitrag über die Chemnitzer Software-Entwickler.
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