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Der besondere Fall
Bedrohlicher CBL-C-Defekt

Für die Eltern ist es ein Schock: Ihr 13-jähriger Sohn kann plötzlich nicht mehr richtig sprechen, isst kaum noch etwas, kann nicht mehr laufen. Ärzte finden weder Ursache noch Therapie. Dann wird die kleine Schwester geboren - und bei ihr ein seltener Defekt entdeckt. Gibt es einen Zusammenhang?

Von Mirko Smiljanic | 08.10.2019
Grafische Darstellung eines Hydroxocobalamin Vitam B12 Moliküls.
Vitamin B12 muss in den Körper-Zellen umgebaut werden, damit der Organismus es für den Stoffwechsel einsetzen kann (imago / Science Photo Library)
Greven im Spätsommer 2012. Auf dem Bolzplatz der kleinen Stadt zwischen Münster und Osnabrück spielen an diesem milden Nachmittag Kinder und Jugendliche Fußball.

"Ja, ich habe gerne Fußball gespielt."
Erzählt mit Wehmut der heute 19jährige Jakob. Damals konnte er noch laufen und springen, heute sitzt er im Rollstuhl und muss das Gehen neu lernen.

"Also, ich habe gemerkt, dass ich ab und zu gestolpert bin, also nicht mehr richtig laufen konnte, es kam auch dazu, dass ich nicht mehr richtig gegessen hab und getrunken hab."

Der gesundheitliche Zustand des Jungen verschlechtert sich im Herbst 2012 mit dramatischer Geschwindigkeit, erinnert sich seine Mutter.

"Wenn ich mich richtig daran erinnere, sechs Wochen, zwölf Wochen, es kam alles auf einmal! Er hat auf einmal nicht mehr richtig reden können, er hat immer mehr abgenommen, also Essen hat er immer verweigert, und dann kam es auch, dass er immer und immer schlimmer laufen konnte, bis gar nicht mehr."

Die Familie steht unter Schock, niemand kann erklären, woran der Junge leidet.

"Wir waren bei verschiedenen Ärzten und die haben verschiedene Untersuchungen gemacht, Blut abgenommen, auch vom Rücken, und die haben nichts herausgefunden und es war auch nichts Auffälliges."
Keine Klinik, kein Arzt kann helfen
Was immer die Mediziner in den Praxen und Kliniken auch untersuchen, sie finden nichts! Niemand kann dem ganz offensichtlich kranken Jungen aus dem Münsterland helfen. Was Professor Thorsten Marquardt, Leiter des Bereichs Angeborene Stoffwechselerkrankungen an der Universitätskinderklinik Münster, durchaus nachvollziehen kann.

"Na ja, es gibt ja Tausende verschiedene Krankheiten, und die häufigen werden halt schnell diagnostiziert, weil jeder Arzt die kennt, die Krankheiten, die seltener sind, die sind natürlich auch bei den Ärzten unbekannter, und da ist es durchaus möglich, dass es viele Jahre dauert, bis dann die richtige Spur gefunden worden ist."

Selbst Thorsten Marquardt, ein ausgewiesener Spezialist für seltene Kindererkrankungen, vermutet, dass auch er und sein Team lange nach der Krankheitsursache hätte suchen müssen. Warum Marquardt dann doch rasch die richtige Spur findet, ist eine unglaubliche Geschichte von Zufällen und Fügungen. Alles beginnt damit, dass die Mutter des damals kranken 13jährigen ein zweites Kind bekommt. Kein gutes Timing? Falsch! Ein geniales Timing! Sarah wird geboren und durchläuft das übliche Neugeborenen-Screening, bei dem über eine Blutuntersuchung nach 15 behandelbaren Krankheiten geschaut wird.

Das Neugeborenen-Screening bei Jakobs Schwester ist ein erster Schritt zur Lösung

"Ich kann mich noch genau erinnern, da meinte die Krankenschwester, es wird alles in Ordnung sein, brauchen Sie sich überhaupt keine Sorgen zu machen. Ich hab dann auch noch gesagt, ja, ich hoffe, dass ich keinen Anruf kriege, ja und dann kam es, dass ich von dem Kinderarzt einen Anruf bekam! Für mich ist eine Welt zusammengebrochen, ich hab gedacht, sie jetzt auch noch?!"

"Beim Neugeborenen-Screening hat man eine erhöhte Menge eines Stoffes gefunden, der nennt sich Propionylcarnitin."
Propionylcarnitin entsteht, wenn in den Zellen Vitamin B12 so umgebaut wird, dass der Organismus es für den Stoffwechsel einsetzen kann. Allerding nur in sehr geringer Menge, hohe Konzentrationen signalisieren Störungen beim Umbau des Vitamin B12. Nun ist es aber so, dass nach Propionylcarnitin normalerweise beim Neugeborenen Screening gar nicht gesucht wird. Eine aufmerksame Laborantin hat den hohen Wert zufällig gesehen und als "Beifang" trotzdem weitergegeben.

"Bei dieser Erhöhung hätte es durchaus auch sein können, dass niemand sich gemeldet hätte."

Weil die Laborantin respektive das Schicksal es anders wollen, bekommen Sarahs Eltern auf die Schnelle einen Termin bei Thorsten Marquardt. Probleme mit dem Vitamin-B12-Haushalt können gefährlich sein! Marquardt untersucht Sarah und diagnostiziert tatsächlich eine seltene Stoffwechselstörung.
Vitamin B12 in 10.000-facher Dosis
"Das nennt sich dann CBL-Erkrankung, das CBL kommt von Cobalamin, Cobalamin ist der Fachbegriff für Vitamin B12, und es gibt verschiedenen Formen von diesen Problemen der Umwandlung von Vitamin B12 in der Zelle, und das Mädchen hat einen CBL-C-Defekt."

Die Therapie ist ebenso banal wie erfolgreich: Das Mädchen bekommt drei Mal wöchentlich eine bis zu 10.000fach höhere Dosis Vitamin B12 gespritzt, als der Körper benötigt. Etwas Vitamin B12 werde schon in den Zellen hängenbleiben, so die Logik. Die Methode funktioniert perfekt, Sarah geht es seit sechs Jahren gut! Und welche medizinische Beziehung gibt es nun zwischen dem gesunden Mädchen und ihrem kranken Bruder Jakob? Da Sarahs Eltern ohnehin in der Universitätskinderklinik Münster sind, erzählen sie ...

" … dass wir noch ein Kind haben, das auch krank ist, vielleicht kann ihm auch geholfen werden. Dann haben wir die Geschichte erzählt, wie es dazu gekommen ist, dass in kürzester Zeit seine Aktivität nachgelassen hat."

"Und da ist es dann einfach eine Frage von Wahrscheinlichkeiten: Einmal im Lotto zu gewinnen ist selten, zweimal im Lotto gewinnen ist unmöglich. Und deswegen ist es sehr unwahrscheinlich, dass, wenn zwei Kinder in einer Familie eine schwerwiegende Krankheit haben, dass diese Krankheiten nicht miteinander zu haben und unabhängig voneinander in der Familie auftreten."
Sarah rettet ihrem Bruder das Leben
Genauso ist es: Auch Jakob leidet an dem CBL-C-Defekt, vererbt übrigens durch die Eltern, die selbst keine Symptome haben. Ohne seine kleine Schwester Sarah, so Thorsten Marquardt, wäre ihr großer Bruder womöglich schon gestorben.

"Die Sarah hat ihm das Leben gerettet, genau, und hat auch verhindert, dass seine Krankheit immer schlimmer geworden ist, sie ist stehengeblieben, sie hat sich ein bisschen verbessert am Anfang. Wir haben es leider nicht mehr so hinbekommen, dass die Symptome ganz verschwinden, wäre sie vielleicht ein Jahr eher geboren, da konnte er noch Fußball spielen, da hätten wir es ganz vermeiden können. Aber es ist müßig darüber nachzudenken, es ist gut, dass es gefunden worden ist, es war für ihn lebensrettend, ja."
(Wiederholung vom 18.09.2018)