D. Süß / C. Torp: "Solidarität"

Was es heißt, solidarisch zu sein

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Das Buchcover "Solidarität" von Dietmar Süß und Cornelius Torp vor einem grafischen Hintergrund
"Die Solidarität hat in den letzten knapp 200 Jahren eine bemerkenswerte Karriere gemacht", schreiben die Historiker Dietmar Süß und Cornelius Torp. © Deutschlandradio / Dietz Verlag
Von Holger Heimann · 25.09.2021
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In der Coronapandemie war die Solidarität plötzlich in aller Munde. Zuvor schien der Begriff etwas in die Jahre gekommen. Vor diesem Hintergrund erzählen die Historiker Dietmar Süß und Cornelius Torp seine Geschichte und vom Wandel seiner Bedeutung.
Parallel zur Coronapandemie hat ein großer, aber irgendwie auch in die Jahre gekommener Begriff eine ungeahnte Renaissance erlebt. Beständig wurde und wird zu Solidarität aufgerufen. Die Jungen sollten mit den Alten solidarisch sein, indem sie sich, obschon weniger gefährdet, gleichsam streng an Abstands- und Quarantäneregel hielten.

Die Pandemie verstärkt Ungleichheiten

Der fürsorgliche, interventionistische Staat sah sich dazu gedrängt, neue Schulden aufzunehmen, um Unterstützungsgelder an in Not geratene Unternehmen zu zahlen. Eine eindringlich beschworene europäische Solidarität gipfelte in einem milliardenschweren Wiederaufbaufonds.
Die Coronakrise hat dabei auch vor Augen geführt, dass es oft kompliziert sein kann mit der Solidarität, dass sie etwas kostet und sich keineswegs von selbst versteht. Die Pandemie hat nicht nur Ungleichheiten verstärkt, sondern auch neue Konflikte heraufbeschworen.
Während der reiche Norden über Impfstoff im Überfluss verfügt, darbt der arme Süden und gerät so weiter ins Hintertreffen. Hierzulande wiederum wollen sich viele Menschen nicht impfen lassen und müssen damit leben, dass ihnen deshalb Mangel an Solidarität vorgehalten wird.

Alte Streitfragen, neue Dringlichkeit

Altbekannte Streitfragen gewinnen unter den Bedingungen einer Pandemie, die alle betrifft und deshalb das Problembewusstsein schärft, an neuer Dringlichkeit: Wer darf Solidarität erwarten? Wie werden Lasten verteilt? Was meint solidarisches Handeln überhaupt? Antworten versprechen die beiden Historiker Dietmar Süß und Cornelius Torp, indem sie eine Geschichte der Solidarität erzählen.
Ihr historischer Ansatz dient dazu, Ausprägungen der Solidarität zu verschiedenen Zeiten aufzuzeigen: "Die Solidarität hat in den letzten knapp 200 Jahren eine bemerkenswerte Karriere gemacht; ein großes Wort, eng verknüpft mit leidenschaftlichen Gefühlen und großen Träumen. Viele berufen sich auf sie, und schon lange sind das nicht mehr nur klassenbewusste Arbeiter, engagierte Feministinnen oder Anti-Rassismus-Aktivisten. Beinahe alle Parteien sprechen von Solidarität. Der am Beginn des 19. Jahrhunderts noch so randständige Begriff hat einen erstaunlichen Siegeszug hinter sich. Doch zuweilen kann man sich auch zu Tode siegen. Die Solidarität hat ihren ursprünglichen politischen Bezugsraum jedenfalls so weit überschritten, dass inzwischen selbst völkisch-nationalistische Trommler von ‚Solidarität‘ sprechen, wenn sie ihre Hassparolen ausspucken."

Ein Begriff im Wandel

Es geht mithin darum, die Idee und den Begriff der Solidarität im Wandel genauer zu fassen. Die Autoren zitieren Klassiker des Fachs wie den Soziologen Émile Durkheim. Vor allem aber sind sie an der gesellschaftlichen Praxis interessiert. Sie schauen darauf, wie sich Solidarität unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen im Tun manifestiert. Dabei, so das Vorhaben, soll jedoch keine Erzählung entstehen, die "vom Dunkeln ins Licht einer neuen Geschwisterlichkeit" führt.
Süß und Torp beginnen ihren historischen Exkurs, der streng chronologisch in der Corona-Gegenwart endet, mit der europäischen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts als Ursprungsort der Solidarität. Von dort führt sie ihr Weg bis zu Protestbewegungen wie Fridays for Future und zu gewandelten Vorstellungen und Formen von Solidarität in einer Welt, in der alte Bindungen gelockert wurden und zugleich neue globale Verflechtungen entstanden.
"Mit guten Gründen lässt sich, forciert seit den 1990er-Jahren, von einem ‘Strukturwandel der Solidarität‘ sprechen; einem Prozess, der einerseits durch die schwindende Bindekraft traditioneller politischer und religiöser Sozialinstanzen und stärker individualisierter Lebensläufe geprägt war, andererseits aber eine daraus entstehende soziale Dynamik erkennen lässt, aus der neue, institutionell weniger fest gefügte Formen solidarischer Vergesellschaftung entstanden", heißt es bei ihnen.

Ein auf Gruppen fixierter Ansatz

Süß und Torp halten trotz eines solchen "Strukturwandels" streng daran fest, Solidarnomen nur auf der Ebene gesellschaftlicher Systeme in den Blick zu nehmen. Dem Wohlfahrtsstaat etwa, den sie als "moderne Verkörperung des Solidaritätsgedankens" verstanden wissen wollen, widmen sie ein eigenes Kapitel. Falsch ist das nicht. Aber die Autoren unterlassen es dabei, nach dem einzelnen handelnden Akteur und dessen Motivlage zu fragen.
Es ist zumindest zweifelhaft, ob in einer Welt, die von fortwährenden und immer weitergehenden Individualisierungsprozessen bestimmt wird, durch einen ganz auf Gruppen fixierten Ansatz nicht Entscheidendes außer Acht bleibt. Der Soziologe Heinz Bude hat in seinem ebenfalls mit "Solidarität" überschriebenen, vor zwei Jahren erschienenen Buch jedenfalls gezeigt, welche verblüffenden Denkanstöße sich gerade aus der Konzentration auf den Einzelnen und auf alltägliche Solidaritäten gewinnen lassen.
Eine ganzheitliche Geschichte der Solidarität wäre um diese individuelle Ebene zu ergänzen. So ließe sich letztlich befriedigender davon erzählen, was Gesellschaften heute und in Zukunft zusammenhalten kann.

Dietmar Süß und Cornelius Torp: "Solidarität: Vom 19. Jahrhundert bis zur Corona-Krise"
Dietz Verlag, Bonn 2021
216 Seiten, 20 Euro

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