Abtrünniges Südossetien

Russlands Stacheldraht in Georgien

23:03 Minuten
Der Grenzzaun in Churwaleti - dem letzten georgischen Dorf vor Südossetien
Völkerrechtlich gehört Südossetien weiterhin zu Georgien. De facto ist die Region seit 1990 militärisch abgetrennt. © Thomas Franke
Von Thomas Franke · 28.10.2020
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Am Samstag wählen die Georgier ein neues Parlament. Ein Dauerthema ist das Verhältnis zum großen Nachbarn: Russland hat Soldaten in der georgischen Region Südossetien stationiert und eine völkerrechtswidrige Grenze errichtet.
An der Straße in das Dorf Churwaleti wacht ein Polizeiposten. Ein weißes Häuschen, vier Autos, die Polizisten tragen automatische Waffen und Mundschutz. Unsere Pässe werden kontrolliert. Allein herumzulaufen, ist nicht erwünscht.
Der Posten steht direkt hinter einer Autobahnabfahrt, etwa eine Dreiviertelstunde Fahrt von Georgiens Hauptstadt Tiflis entfernt. Die Straße führt nach Norden in eine herbstlich-braune Ebene. Dahinter erheben sich die Berge des großen Kaukasus. Auf deren Rückseite liegt Russland und dazwischen Südossetien, das sich mit russischer Hilfe von Georgien abgespalten hat. Ein Gebiet so groß wie Mallorca.

Im Podcast der Weltzeit erklärt der georgische Politikwissenschaftler Bidzina Lebanidze, wie es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zur Abtrennung der georgischen Regionen Abchasien und Südossetien kam und welche Bedeutung die Wahlen am 31. Oktober für die künftige Entwicklung Georgiens haben sowie für das Verhältnis zur EU und zu Russland.

© Georgian Institute of Politics
Nach wenigen Minuten geben die Polizisten grünes Licht. Zwei von ihnen fahren in einem weißen Pick-up voraus, zwei weitere folgen in einem Jeep. Churwaleti ist das letzte Dorf auf georgisch kontrollierter Seite. Im Ort ein weiterer georgischer Polizeiposten: eine Art Bunker, in Militärfarben getarnt. Nun schließt sich noch ein dritter Polizeiwagen unserer Eskorte an.

Georgische Bauern brauchen Polizeischutz auf dem Feld

Churwaleti ist ein stilles Dorf. Nicht mal Hunde laufen auf der Straße. In den Gärten picken ein paar Hühner, Ferkel laufen um die Wette. Der Asphalt weicht einer huckeligen Schotterpiste. In einem Obstgarten erntet Avto Churoschwili Granatäpfel.
"Ich habe keine Angst, aber die Lage hier ist unangenehm", sagt er. "Angst haben muss man, wenn sich die Situation zuspitzt. Dann muss man von hier weg. Aber sonst.... es ist einfach unangenehm."
Churoschwili ist Mitte 50, Lehrer und Teilzeitlandwirt. Er zeigt die Straße hinauf in Richtung der Berge. Vor wenigen Wochen hätten die Russen dort einfach so einen Zaun gezogen:
"Sie haben uns wieder mal ein Stück Land weggenommen. Einige Hektar. Land, das wir bewirtschaftet haben. Jetzt können wir dort nicht mehr hin. Ich baue dort Weizen an, auf anderthalb Hektar Land, das liegt nur 50 Meter von der Grenze entfernt. Wenn wir in der Nähe des Zauns arbeiten, dann bestellen wir vorher Polizeischutz. Anders wäre es zu gefährlich."

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Die georgischen Polizisten hören zu. Sie nicken. Dann fahren sie voraus, um den Zaun zu zeigen. Direkt hinter dem letzten Haus von Churwaleti ist ein Maschendrahtzaun: Etwa 1,50 Meter hoch, davor liegt Stacheldrahtrolle. Dahinter steht ein grünes Schild mit einer Aufschrift in Englisch und Georgisch: "Achtung! Staatsgrenze! Durchgang verboten!" Die Grenze allerdings erkennen außer Russland nur Syrien, Nicaragua, Nauru und Venezuela an. Völkerrechtlich gehört Südossetien weiterhin zu Georgien.

Russland hat tausende Soldaten in abtrünnigen Gebieten

Etwa hundert Meter weiter, hinter einem Busch, können wir eine blaue Baracke sehen. Mit ein bisschen Erdwall und Autoreifen gesichert. Und die Polizisten erzählen, dass das der Checkpoint der Russen ist, mit drei Soldaten besetzt, die würden sich aber immer verstecken, wenn georgische Polizisten kämen.
Und da unten sehe ich einen rot-weißen Mast, einen Metallmast, und das ist, so der Polizist eben, die Basis der russischen Armee hier vor Ort.
Russland hat mehrere tausend Soldaten in den abtrünnigen georgischen Gebieten postiert. Sie seien es, die den Zaun aufstellten, nicht die Südosseten, erzählen die georgischen Polizisten. Sie würden das an deren Uniformen erkennen.
Drei georgische Polizisten in Churwaleti an der Grenze zu Südossetien. Sie gehen in Uniform durch das Dorf.
Georgische Polizisten in Churwaleti an der Grenze zu Südossetien. Ohne ihre Präsenz würden die Bauern nicht aufs Feld.© Thomas Franke
Wenn ich jetzt ein bisschen nach links gucke, da fährt ein grüner LKW auf einer Straße ein bisschen erhöht. Und das ist schon ein russischer Militärlaster. Und der ist vielleicht, na, 500 Meter von uns entfernt. Jedenfalls da oben ist es dann besetztes Gebiet.

Georgier entführt und nach Südossetien verschleppt

Im Dorf kommt Avto Churoschwili noch einmal aus seinem Obstgarten, bricht einen Granatapfel auf und bietet die Kerne an.
"Die Polizei muss hier patrouillieren, anders geht das nicht. Wenn die auf der anderen Seite unsere Polizei sehen, dann halten sie sich zurück. Ansonsten kommen sie hier rüber und nehmen unsere Leute einfach mit."
Chwitscha Mgebrischwili ist genau das passiert. Der 47-Jährige lebt in Mejvriskhevi, einem Nachbardorf. Er arbeitet als Schweißer in der nahegelegenen Kreisstadt und hat gerade Mittagspause. Mehrere Wochen saß er in Südossetien im Gefängnis. Alles begann mit einer Kuh, die von der südossetischen Seite auf die georgisch kontrollierte gelaufen war. Sie gehörte Chwitschas alten Freunden, Südosseten.
"Sie haben mich tagsüber angerufen, um ihnen die Kuh zurückzubringen. Sie dürfen nämlich auf ihrer Seite auch nicht dicht an die Grenze heran, sie werden sonst von den Russen gefangengenommen. Ich habe ihre Kuh gefunden und hinübergebracht. An der Stelle gibt es keinen Stacheldrahtzaun, ich wusste nicht, dass das deren Gebiet ist. Es war nachts und dunkel. Es war nicht zu sehen, wo deren Seite, wo unsere Seite ist."
Chwitscha Mgebrischwili hat eine russische SIM-Karte, um mit seinen Freunden auf der anderen Seite telefonieren zu können. Die Soldaten hatten das Gespräch abgehört. Sie hätten ihm aufgelauert, ihm einen Sack über den Kopf gestülpt und ihn mitgenommen nach Zchinwali, in die Hauptstadt Südossetiens. Dort hätten sie ihn in eine Zelle gesperrt, stundenlang verhört und geschlagen. Die südossetischen Behörden veröffentlichten später einen Videomitschnitt seines angeblichen Geständnisses. Darin war von einer Kuh keine Rede mehr.

Drei Monate Gefängnis für erzwungenes Geständnis

In dem Video sitzt Chwitscha Mgebrischwili vor einer halbhoch getäfelten Wand. Er ist unrasiert, wiegt sich zusammengekauert auf dem Stuhl hin und her. Er gesteht, dass er in Südossetien nach seltenen Fledermäusen gesucht habe, um sie dann in Georgien an ein geheimes Labor zu verkaufen.
Die Aussagen sind wirr. Immer wieder wird er von Fragen unterbrochen, das kurze Video ist mehrfach geschnitten. Am Ende sagt er, er bekomme in Tiflis fünf- oder sogar zehntausend US-Dollar für so eine Fledermaus.
"Sie haben mich gezwungen, das zu sagen. Die ersten Versuche waren wohl nicht gut genug. Sie haben mich mehrfach aufgenommen. Und dann fingen sie an, von Amerikanern und Russen zu reden. Und ob ich gekämpft und Leute umgebracht hätte. Ich habe gesagt: Nein, ich habe nicht gekämpft, im Gegenteil, ich habe Freunde, Osseten."
Russischsprachige Medien verbreiten Verschwörungstheorien, denen zufolge US-Amerikaner in Georgien angeblich Biowaffen, möglicherweise sogar das Coronavirus entwickeln.
"Sie haben solche Fragen gestellt – ich erinnere mich schon nicht mehr im Einzelnen, denn sie haben mich dauernd geschlagen. Und ich hatte eine Maske auf, eine sehr dicke, ich bekam gar keine Luft mehr, ich habe ihnen das auch gesagt, ich kriege keine Luft."
Nach zwölf Tagen, erzählt Chwitscha Mgebrischwili, habe ihm jemand einen Text vorgelegt.
"Da kam ein Ermittler und sagte: 'Unterschreib, das ist besser für dich'. Ich habe unterschrieben."
Der Staatsanwalt in der südossetischen Hauptstadt Tskhinvali forderte zwei Jahre Haft, ein Gericht verurteilte ihn schließlich zu drei Monaten.
"Die Leute im Gefängnis waren okay. Sie haben mich in Ruhe gelassen. Denen ist es egal, ob du Georgier bist. Wir waren zu zweit, manchmal zu dritt in der Zelle. Es war sauber und okay. Dort saß auch noch ein verwundeter Georgier. Auf den haben die russischen Grenzsoldaten geschossen und ihn verletzt. Dem werfen sie vor, er habe Grenzer erschießen wollen. Er war auf der Jagd. Ihm drohen zwischen 12 und 20 Jahre."

Versöhnungsministerin: Besatzungslinie ist illegal

Dass Chwitscha Mgebrischwili vorzeitig entlassen wurde und auf die georgisch kontrollierte Seite zurückkehren konnte, ist der Regierung Georgiens und der Hilfe internationaler Vermittler zu verdanken. In Tiflis ist Tea Akhvlediani für solche Fälle zuständig. Sie ist Ministerin für Versöhnung. Es gäbe eine Hotline, erzählt sie.
"Das ist ein sehr wichtiger Kanal. Darüber tauschen wir Nachrichten aus und informieren uns über die Gesundheit und den Zustand unserer illegal festgenommenen Staatsbürger. Außerdem gibt es das Internationale Rote Kreuz, es ist die einzige internationale Organisation, die Zugang zur Region Tskhinvali hat. Das war es dann aber auch schon mit den offiziellen Möglichkeiten. Außerdem gibt es inoffizielle Kanäle. Zu denen kann ich Ihnen aber keine Details verraten."
Die Ministerin vermeidet das Wort "Südossetien". Sie spricht stattdessen von der "Region Tskhinvali".
Neben dem Roten Kreuz ist die EU mit einer Beobachtermission vor Ort. Sie ist Teil eines Abkommens, das der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy 2008 mit der russischen Regierung ausgehandelt hat, um den Krieg zwischen Russland und Georgien zu stoppen. Die EU-Beobachter dürfen allerdings nur auf der georgisch kontrollierten Seite patrouillieren. Russland hat ihnen den Zugang zu den abtrünnigen Regionen von Anfang an verwehrt. Eine Tatsache, gegen die die Regierung Georgiens seit Jahren ohne Erfolg protestiert. Die Versöhnungsministerin Tea Akhvlediani:
"Alles dort war von vornherein illegal. Selbst die Besatzungslinie ist illegal. Wenn es um Recht geht, dann muss zuerst mal das Sechs-Punkte-Waffenstillstandsabkommen von 2008 von Russland eingehalten werden. Das ist der erste Punkt. Und der zweite ist, dass all die Menschen, die an diesen illegalen Dingen beteiligt sind, bestraft werden müssen."
Das aber ist bisher nicht abzusehen. Mehr noch, Russland verhindere jeden Versuch einer Versöhnung zwischen Südosseten und Georgiern, sagt die Ministerin.

"Georgischer Traum"-Wählerin und Russland-Anhänger

Zurück im Dorf Mejriskhevi. Gegenüber von Chwitscha Mgebrischwili, der seinen ossetischen Freunden die Kuh zurückbringen wollte, wohnen seine Cousine Lejla und sein Cousin Jumber. Über der Einfahrt rankt Wein – typisch für die Region. Am Haus steht ein großes Fass.
"Hier macht jeder so viel Wein, wie er braucht. Manche kommen mit einer Tonne nicht übers Jahr, andere brauchen 500 oder 300 Liter."
"Kommen Sie zu Silvester! Dann servieren wir Ihnen unseren Hauswein!"
Lejla Mgebrischwili erzählt, sie habe sich zunächst gar keine Sorgen um ihren Cousin gemacht.
"Sein Telefon war ausgestellt. Ich habe gedacht, vielleicht ist er mit irgendwem zusammen, er ist ja ledig und hat keine Kinder. Vielleicht antwortet er deshalb nicht, oder sein Akku ist alle. Ganze drei Tage habe ich nichts von ihm gehört!"
Weil die Regierung Georgiens half, ihren Cousin vorzeitig aus der Haft zu befreien, will sie bei der Parlamentswahl am kommenden Sonnabend die Regierungspartei, den Georgischen Traum, wählen. Sie wirbt im gesamten Dorf dafür.

Direkt an der Grenze ist ein Friedhof

Der Cousin verzieht das Gesicht. Jumber Mgebrischwili hat lange in Russland gearbeitet, unter anderem als Busfahrer. Vor vier Jahren ist er zurückgekommen, um sein Haus für seine Kinder und Enkel auf Vordermann zu bringen. Auf seinem Pullover prangt noch die Aufschrift des staatlichen Moskauer Transportunternehmens Mosgortrans.
"Ich habe 30 Jahre dort gelebt, und dass die Russen ein schlechtes Volk sind, kommt mir nicht über die Lippen."
Etwas später steht Jumber Mgebrischwili am Dorffriedhof. Der liegt etwas außerhalb auf einem Hügel. Er zeigt auf ein Wäldchen.
"Da ist die Grenze. Wo genau, wissen wir selber nicht. Sie können hier vorbeikommen und einen direkt hier fangen. Und sagen, wir hätten die Grenze verletzt. Manchmal, wenn wir zum Friedhof kommen und unserer Toten gedenken und hier sitzen, dann sehen wir sie, zwei oder drei Leute, die meist leise patrouillieren. Meist beobachten die uns nur. Aber sobald sie sehen, dass einer an einem Ort unterwegs ist, an dem man ihn mitnehmen kann, tun sie das. Putin versucht, auf diese Art und Weise sein Land zu schützen. Er könnte das natürlich auch im Guten probieren. Denn mit Gewalt bewirkt man ja nichts. Die russische Politik ist irgendwie vergammelt."
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