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Türkei
Özdemir: In Syrien wird die Kurdenfrage nicht gelöst

Cem Özdemir kritisiert das Vorgehen Ankaras gegen die Kurden. Der Konflikt könne nicht militärisch gelöst werden, sagte der Grünen-Chef im DLF - auch nicht in Syrien, wo zur Zeit "alle Stellvertreterkriege führten". Im Umgang mit der Türkei befinde sich die EU in einem "schrecklichen Dilemma".

Cem Özdemir im Gespräch mit Dirk Müller | 29.08.2016
    Der Bundesvorsitzende der Partei Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir, spricht am 17.06.2016 in Berlin im Rahmen des Gerechtigkeitskongresses der Grünen unter dem Motto "Es ist genug für alle da" zu den Journalisten.
    Der Bundesvorsitzende der Partei Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir (picture alliance / dpa / Britta Pedersen)
    Dass die Türkei gegen die Terror-Miliz "Islamischer Staat" vorgehe, habe seine Berechtigung, so Özdemir. Doch dabei auch die Kurdenmiliz YPG zu bekämpfen, sei falsch. Dies werde nicht dazu beitragen, das Leid in Syrien zu beenden. Die Auseinandersetzung mit den Kurden könne nur in der Türkei gelöst werden. Der Grünen-Vorsitzende nannte es einen "unerträglichen Zustand", dass in Syrien "alle einen Stellvertreterkrieg führen".
    Die deutsche Regierung forderte er auf, im Umgang mit der Türkei wieder mehr auf Menschenrechte statt auf Realpolitik zu setzen. Das Land sei erst durch die Flüchtlingspolitik wieder auf der politischen Landkarte Berlins aufgetaucht. Eine Strategie könne er aber nicht erkennen.
    Das Flüchtlingsabkommen der Europäischen Union funktioniert Özdemir zufolge zur Zeit nicht. Es sei falsch, wenn sich die Türkei aussuchen könne, "wen sie behält und wen sie ausweist"; die EU dürfe nicht "einfach Geldchecks überweisen und dann sehen, was passiert". Eine Alternative sieht Özdemir aber auch nicht: "Wer das Flüchtlingsabkommen in Bausch und Bogen in die Tonne tritt, muss ja auch sagen, was er stattdessen hat."

    Dirk Müller: Raketen und Bomben aus der Luft, Artillerie-Angriffe - das türkische Militär geht mit voller Härte nicht nur gegen Stellungen der IS-Milizen vor, sondern auch gegen kurdische Verbände, kurdische Milizen, die in weiten Teilen auf der Seite des Westens kämpfen, aufseiten der USA, aufseiten der NATO. Auch die Bundesregierung unterstützt die kurdischen Peschmerga beispielsweise mit Waffen und auch mit Ausbildern.
    Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen sollen durch die türkischen Angriffe an diesem Wochenende mindestens 35 Zivilisten getötet worden sein. Washington und Berlin geben inzwischen offiziell grünes Licht aber für die Militäroperation im Norden Syriens. Die Große Koalition hat dabei auch das fragile und so umstrittene Flüchtlingsabkommen mit Ankara im Hinterkopf. - Am Telefon ist jetzt Grünen-Chef Cem Özdemir. Guten Morgen!
    Cem Özdemir: Guten Morgen, Herr Müller.
    Müller: Lässt die Koalition sich erpressen?
    Özdemir: Es macht zumindest den Eindruck, wenn wir verzichten auf Kritik an Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, wenn wir keine deutlichen Worte finden angesichts dessen, was in der Türkei an Abbruch von Rechtsstaatlichkeit ja nicht erst seit dem Putschversuch funktioniert. Und da erwarte ich schon, wenn deutsche Politiker, zumal die Kanzlerin in die Türkei gehen, dass die Werte unseres Landes und die Werte Europas mitreisen.
    Müller: Ist Frank-Walter Steinmeier genauso schuld?
    "Nicht nur Realpolitik, sondern auch werteorientierte Politik"
    Özdemir: Das gilt sicherlich auch für den Außenminister. Auch da würde ich mir wünschen, dass die deutsche Außenpolitik nicht nur eine Realpolitik ist - das muss sie sicherlich auch sein -, sondern auch eine menschenrechtsorientierte Politik, eine werteorientierte Politik ist. Jetzt muss man allerdings gleich einschränkend dazu sagen: Wir wären natürlich - auch das gehört zur Ehrlichkeit dazu - in einem schrecklichen Dilemma. Wer gegen den Flüchtlingsdeal mit der Türkei ist, muss auch zur Kenntnis nehmen, dass wir in Europa - das hat die Reise der Bundeskanzlerin nach Osteuropa gezeigt - wenig Bereitschaft haben, Flüchtlinge aufzunehmen, Flüchtlinge zu verteilen. Da landet man automatisch beim Krieg in Syrien, der nach wie vor nicht gestoppt wird.
    Müller: Also ist das für Sie ganz klar: Wir brauchen nach wie vor die Türkei?
    Özdemir: Auch eine grüne Regierung wird mit den Putins, wird mit den Erdogans dieser Welt reden müssen. Das geht gar nicht anders. Man braucht sie in vielen Fragen.
    Müller: Das hat die Kanzlerin eben ja auch gesagt.
    Özdemir: Wie bitte?
    Müller: Das hat die Kanzlerin eben ja auch gesagt: Wir müssen den Dialog weiter verbreiten.
    Özdemir: Das ist ja auch nicht falsch. Falsch ist, dass ich nicht erkennen kann, dass es irgendeine Art von Strategie gibt in der Türkei-Politik. Es war schließlich auch eine Große Koalition, die die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu einem Zeitpunkt, als die Türkei auf einem richtigen Weg war, Reformen gemacht hat, durch die sogenannte privilegierte Partnerschaft, damals mit Sarkozy zusammen, ersetzt hat. Dann erst durch die Flüchtlingspolitik ist die Türkei doch wieder auf der Landkarte entdeckt worden. Jetzt war die Kanzlerin häufiger in der Türkei in den letzten zehn, zwölf Monaten wie in den zehn Jahren davor. Eine Strategie kann ich darin nicht erkennen.
    Müller: Die militärischen Schläge gegen die Kurden - wir haben seit vielen Tagen darüber ausführlich berichtet -, ist das für Sie ein Angriffskrieg der türkischen Regierung gegen die Kurden?
    "Wenn sich drei Kurden versammeln, ist Polizei in wenigen Sekunden da"
    Özdemir: Wenn die Türkei gegen ISIS vorgeht, dann hat das ja durchaus eine Berechtigung. Die Türkei selber ist Opfer von ISIS. Allerdings muss man auch da dazu sagen: Sie hat auch lange sehr weggeschaut, was das Vorgehen von ISIS angeht, auch auf türkischem Boden. Wenn in der Türkei sich drei Kurden versammeln, eine Demonstration machen, ist die Polizei in wenigen Sekunden da. Auf dem Gezi-Platz wurden die Leute auseinandergeknüppelt. Aber ISIS konnte sich in der Türkei versammeln, konnte sogar Leute rekrutieren. Da soll mir keiner erzählen, dass Ankara davon nichts wusste.
    Jetzt greift die Türkei ISIS an, das ist richtig. Allerdings sie tut es quasi auf eigene Rechnung und sie hat noch eine weitere Rechnung offensichtlich, und das ist gegen die YPG. Das sind nun wiederum diejenigen, die am erfolgreichsten bislang gegen ISIS gekämpft haben. Das wird sicherlich nicht dazu beitragen, dass das Sterben, das Leid in Syrien beendet wird, aber darum geht es Herrn Erdogan nicht. Ich glaube, das ist mehr ein innenpolitisches Signal.
    Müller: Ist das ein Angriffskrieg gegen die kurdischen Gruppierungen?
    Konflikt mit der PKK: "Es gibt keine militärische Lösung"
    Özdemir: Es ist zumindest etwas, was dazu beiträgt, dass auch die Auseinandersetzung in der Türkei - das zeigen ja auch die Terrorangriffe, die man scharf verurteilen muss, durch die PKK -, dass das weiter trägt. Es trägt zu einer innenpolitischen Verhärtung bei. Derselbe Erdogan war ja auch jemand, der mit der PKK schon mal Gespräche führte. Das hatte dazu beigetragen, dass es gar keine Terrorangriffe in der Türkei gab, dass es ein Klima der Versöhnung gab in der Türkei. Jetzt setzt er auf die militärische Lösung. Man muss aber wissen: Es gibt keine militärische Lösung. Vor ihm haben quasi alle türkischen Staats- und Ministerpräsidenten auf die militärische Lösung gesetzt. Alle sind gescheitert. Ich sage auch ausdrücklich, das gilt auch für die PKK. Auch die PKK-Angriffe sind durch nichts zu rechtfertigen. Auch die werden nichts bewirken.
    Müller: Aber Sie zögern da, wenn ich das so interpretieren darf, Herr Özdemir, ein bisschen in der Frage zu sagen, das ist ein Krieg. Müssen Sie ja nicht. Jetzt frage ich Sie aber noch mal: Für Sie ist das kein Krieg gegen die Kurden, sondern sind das militärische Operationen?
    Özdemir: In Syrien tobt Krieg, verstehen Sie. Es tritt nur eine weitere Kriegspartei ein, die Türkei. Insofern tue ich mich deshalb schwer, weil in Syrien ja nicht jetzt der Krieg beginnt, sondern der Krieg tobt seit vielen Jahren.
    Müller: Die Frage ist ja, ob die Türkei einen Krieg gegen die Kurden begonnen hat. Das ist meine Frage.
    Özdemir: Na ja. Insofern kann man das nicht sagen, weil es ja nun auch Kurden gibt, die nicht die PKK unterstützen beziehungsweise Parteien unterstützen, die nicht der AKP nahestehen, sondern das gibt - das gehört auch zum Drama dazu - auch welche, die die AKP wählen. Also zeigt das die ganze Zerrissenheit des Landes, der Türkei, und darum sage ich ja gibt es eigentlich nur eine Versöhnungslösung. Der Ort dafür wäre das Parlament. Es gibt mit der HDP eine Partei, die zwar früher mal der PKK nahestand, aber jetzt auch die Terrorangriffe Gott sei Dank kritisiert. In der Türkei sitzen alle Parteien im Spektrum der Türkei. Da ist der Lösungsort, nicht in Syrien und sicherlich auch nicht durch Angriffe auf die Polizei, oder indem man kurdische Städte belagert, wie es die türkische Armee gemacht hat. Das wird nur zu mehr Leid führen.
    Syrien: "Das ist ein unerträglicher Zustand"
    Müller: Realpolitik - Sie sind ja Realpolitiker -, kommen wir darauf noch einmal zurück, das haben Sie eben schon kurz angesprochen. Das heißt, die Realpolitik der Bundesregierung muss aber, das ist jetzt meine Frage, das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei nicht nur berücksichtigen, sondern muss diesem Abkommen immer noch oberste Priorität einräumen?
    Özdemir: Realpolitik würde bedeuten, dass wir uns endlich diesem Krieg in Syrien zuwenden. Ich meine, es ist doch unerträglich, dass während wir da gerade sprechen, in Aleppo Menschen hungern und uns die Propaganda versucht zu erzählen von Syrien, das sei alles gar nicht so schlimm. Das ist doch ein unerträglicher Zustand, dass alle dort einen Stellvertreterkrieg führen und die Weltgemeinschaft das, was sie in Bosnien erfolgreich irgendwann mal geschafft hat, in Syrien nicht schafft.
    Müller: Flüchtlingsabkommen, das war die Frage. Muss das gehalten werden, das so umstrittene Flüchtlingsabkommen?
    Özdemir: Ein Flüchtlingsabkommen, das dazu führt, dass die Türkei Leute aussuchen kann, wen sie behält und wen sie raus schickt, und dann die Europäische Union die Leute ja gar nicht aufnimmt, siehe jetzt den Beschluss von Tschechiens Ministerpräsident, das wird wohl nicht so richtig funktionieren. Ich mach's mir da nicht leicht, denn wer das Flüchtlingsabkommen in Bausch und Bogen in die Tonne tritt, muss ja auch sagen, was er stattdessen hat. Aber ich sehe gegenwärtig nicht, dass das Flüchtlingsabkommen funktioniert.
    Müller: Aber Sie sind schon dafür, dass es zumindest wieder auf den Weg gebracht wird, neu definiert wird, aber nicht generell gekündigt wird, weil wir keine Alternative, wenn ich Sie richtig verstanden habe, dazu haben, mit Erdogan in dem Punkt zusammenzuarbeiten?
    "Jordanien leistet trotz immenser Schwierigkeiten wirklich Erstaunliches"
    Özdemir: Ich bin dafür, dass man den Nachbarstaaten Syriens hilft, die viel, viel mehr Flüchtlinge aufgenommen haben wie jedes einzelne Land der Europäischen Union für sich und gemeinsam sowieso, und das haben wir in der Vergangenheit eher zu wenig als zu viel getan. Aber das heißt nicht, dass man einfach Geldschecks überweist, sondern dass man auch schaut, was damit passiert.
    Kinder müssen in Schulen, die Leute müssen Arbeitszugänge bekommen, und da gibt es Länder, die machen das vorbildlicher, und manche, die machen es leider nicht so gut. Jordanien würde ich beispielsweise in die Kategorie der Länder tun, die trotz immenser Schwierigkeiten wirklich Erstaunliches leisten. Denken Sie an den Bildungszugang, der jetzt den Kindern gewährleistet wird. Und das bei einem Land, das schon gebeutelt genug ist durch Flüchtlinge, nämlich früher aus Palästina.
    Müller: Dann kommen wir noch mal zurück auf die deutsche Perspektive. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, das Flüchtlingsabkommen muss irgendwie gehalten werden, besser ausgefüllt werden. Das heißt, Sie hätten auch gar keine Probleme, um den innenpolitischen Teil jetzt zu eröffnen, demnächst auch mit der CDU, mit der Union, wenn es sein muss, eine Regierung einzugehen?
    "Wir wissen ja nicht mal, wer bei der Union Kanzlerkandidat wird"
    Özdemir: Das ist jetzt eine etwas mutige Interpretation meiner Worte. Ich habe ja nun gerade gesagt, dass ich da vieles anders machen würde. Dazu gehört beispielsweise, dass es nicht sein kann, dass man wegschaut bei Menschenrechtsverletzungen. Dazu gehört aber auch, dass die Europäische Union nicht einfach so tun kann, als ob die Nachbarstaaten zuständig sind für unsere Probleme.
    Aber zu Ihrer Frage. Ich halte es für gerade absurd, im Jahre 2016 zu entscheiden, was 2017 bei der Bundestagswahl passieren wird. Bis dahin fließt noch viel Wasser den Neckar oder, da wir ja in Berlin sind, die Spree runter.
    Wir wissen ja nicht mal, wer bei der Union Kanzlerkandidat wird. Wir wissen nicht, wie die Linkspartei sich entscheidet, ob sie eher dem Kurs von Bodo Ramelow folgt oder von Sahra Wagenknecht. Bei Letzterem würde mir die Fantasie fehlen, mir vorzustellen, wie man da eine stabile Regierung hinbekommt. All diese Fragen sind offen, darum kümmern wir Grünen uns um uns Grüne, um gestärkt zu werden, und alles andere sieht man dann.
    Müller: Ja das sagen Sie. Bei uns fließt ja der Rhein in Köln entlang. Die Rheinländer wollen immer frühzeitig alles wissen, um ein bisschen Sicherheit zu bekommen. So einfach ist das in Nordrhein-Westfalen ja auch nicht. Noch mal die Frage: Sie sagen, die Grünen kümmern sich um sich selbst. Das hat Winfried Kretschmann an diesem Wochenende getan, Jürgen Trittin auch. Beide sagen, mit Angela Merkel kein Problem. Für Sie auch?
    Özdemir: Es macht doch keinen Sinn, wenn alle sagen, mit wem sie jeweils nicht können. Dann haben wir spanische Verhältnisse. Dann wählen die Leute so oft wie sie wollen und es gibt trotzdem keine stabile Regierung.
    Müller: Aber ich habe ja gefragt, mit wem Sie können!
    "Es geht um die Zukunft der Europäischen Union"
    Özdemir: Also muss man gesprächsfähig sein. Das gehört sich so unter Demokraten. Aber im Deutschen Bundestag sitzen neben der CDU/CSU noch weitere Fraktionen. Auch mit denen sind wir gesprächsfähig und müssen schauen, dass am Ende des Tages eine stabile Regierung rauskommt. Ich meine, es geht schließlich um die Zukunft der Europäischen Union. Da spielt Deutschland eine nicht ganz unerhebliche Rolle. Wir müssen eine Million Flüchtlinge integrieren, wir müssen schauen, was unser Beitrag ist, das Drama in Syrien zu beenden. Und wenn ich mir Putins Aggressionsgehabe in Syrien anschaue, die Wahlen in Frankreich für die Präsidentschaft, da haben wir genug zu tun. All diese Themen warten darauf, dass Deutschland eine stabile Regierung hat, die weiß was sie will.
    Müller: Herr Özdemir, wenn Sie mit Angela Merkel zusammengehen würden, dann können Sie noch mehr Flüchtlinge als eine Million demnächst politisch betreuen. Wollen Sie das?
    Özdemir: Ich glaube nicht, dass man die Schotten dicht machen kann. Die Globalisierung ist bei uns angekommen. Das wird auf Dauer bedeuten, auch das gehört zur Ehrlichkeit, dass Flüchtlinge kommen werden, dass man sie wird aufnehmen müssen. Wir müssen schauen, dass die anderen europäischen Länder ihren Teil an Verantwortung übernehmen. Aber auch da sollten wir uns keine Arroganz leisten. Wir haben in der Vergangenheit schließlich auch weggeschaut, als Italien uns um Hilfe gebeten hat in Lampedusa. Damals war es ein deutscher Innenminister Friedrich, der gesagt hat, das ist ein italienisches Problem, kein deutsches. Wer will, dass Europa europäisch bleibt, der muss sich auch selber europäisch verhalten. Wir haben das im Fall von Griechenland und bei der Flüchtlingskrise in Italien auch nicht immer gemacht.
    Müller: Jetzt sagen die Konservativen in der CSU, wir müssen aufpassen, dass Europa nicht syrisch wird. Jetzt haben sich ja gestern viele dazu geäußert. Sigmar Gabriel hat jetzt auch sogar gesagt, in der Flüchtlingspolitik ist vieles falsch gelaufen, was die Kanzlerin, was die Union gemacht hat. Er will jetzt auch eine Obergrenze. Könnten Sie da ein bisschen ihm entgegenkommen?
    "Sigmar Gabriel mit seinen wandelnden Ansichten"
    Özdemir: Zum einen: Mir würde auch viel einfallen, was falsch gelaufen ist. Die Frage ist nur, was bringt es uns jetzt. Unsere Kommunalpolitiker brauchen jetzt Hilfe bei der Integration von Flüchtlingen. Die Leute müssen schnell Deutsch lernen, sie müssen schnell Ausbildungen machen, sie müssen in Jobs gebracht werden. Wir dürfen auch die kulturelle Integration nicht versäumen. Das sind doch jetzt die Themen, die anstehen.
    Und rückwärts geführte Debatten, das können wir dann gerne mal irgendwann akademisch machen, wer wann was wie richtig gemacht hat. Und ich nehme zur Kenntnis, dass Sigmar Gabriel mit seinen wandelnden Ansichten immer Recht hatte und alle anderen Unrecht hatten. Ob das ihm hilft, sei mal dahingestellt. Ich rate dazu, dass man jetzt anpackt, sich um die Probleme kümmert. Davon haben wir gerade genug. Und dann gibt es Parteien wie die CSU und leider gehört offensichtlich auch der SPD-Vorsitzende dazu, die am Rande stehen und nörgeln.
    Müller: Sie machen es mir ja schwer heute, Herr Özdemir. Ich muss jetzt noch mal fragen. Wir haben ja zur Zukunft gefragt. Obergrenze ist eine künftige Frage, keine aktuelle Frage. Künftige Frage Obergrenze, ja oder nein?
    "Man kann dafür sorgen, dass die Fluchtursachen reduziert werden"
    Özdemir: Obergrenzen sind nicht verfassungskonform in der Bundesrepublik Deutschland. Das wissen die, die sie vorschlagen. Dass sie es trotzdem vorschlagen zeigt, dass es ihnen nicht um die Lösung der Probleme geht.
    Müller: Keine Limitierung des Flüchtlingszustroms, der Zuwanderung?
    Özdemir: Man kann ein Einwanderungsgesetz limitieren. Deshalb wollen wir ja eins, dass man dort genau steuern kann, wer in die Bundesrepublik Deutschland kommt, aus sozialen Gründen, aus wirtschaftlichen Gründen. Aber man kann nicht Flüchtlinge limitieren. Man kann dafür sorgen, dass die Fluchtursachen reduziert werden. Darauf würde ich mich gerne konzentrieren mit den Grünen in der Bundesregierung. Da gibt es eine Menge zu tun, was Deutschland oder Europa beitragen können. Denken Sie an den Klimawandel, denken Sie an unsere Agrarpolitik, denken Sie an Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien. Mir würde da vieles einfallen.
    Müller: Jetzt haben wir ziemlich viel durchgekaut. Danke für Ihre Geduld und dass Sie für uns heute Morgen Zeit gefunden haben. Cem Özdemir, Chef der Grünen. Vielen Dank, schönen Tag.
    Özdemir: Sehr gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.