Traumata

Das Leben nach der Sekte

Diese Aufnahme aus den 80er-Jahren zeigt den Eingang zum Gelände der Sekte Colonia Dignidad in Chile
Diese Aufnahme aus den 80er-Jahren zeigt den Eingang zum Gelände der Sekte Colonia Dignidad in Chile © dpa / picture alliance
Von Michael Hollenbach · 24.05.2014
Unterdrückt, gequält, mit Medikamenten gefügig gemacht: Jahrzehntelang lebten die Mitglieder der Sekte Colonia Dignidad in Chile unter einem brutalen Regime. Viele von ihnen sind inzwischen wieder in Deutschland - und kämpfen bis heute mit den Folgen.
Heinz Wagner und seine Frau Irmgard leben in einer kleinen Wohnung in Krefeld. Mehr als 40 Jahre waren sie Mitglieder der Sekte Colonia Dignidad; im Jahr 2005 kehrten sie von Chile an den Niederrhein zurück. Als die beiden in Deutschland ankamen, waren sie geprägt von einem jahrzehntelangen Leben in der Abhängigkeit von der Sekte: Als Kinder folgten sie - wie die anderen Mitglieder der Glaubensgemeinschaft - dem Sektenführer Paul Schäfer nach Chile. Dort – 400 Kilometer südlich von Santiago – lebten sie jahrzehntelang von der Außenwelt abgeschirmt, hinter einem Stacheldrahtzaun.
Irmgard Wagner: "Ich war ja so naiv und so dumm. Als ich mit 60 Jahren nach Deutschland kam, da wusste ich gar nicht, was Sex ist. Ich musste wieder wie ein Kind anfangen."
Nach dem Ende der Sekte vor neun Jahren sind rund 100 Mitglieder nach Deutschland zurückgekehrt, berichtet der Frankfurter Menschenrechtsaktivist Dieter Maier:
"Die haben immer nur gelernt, unselbständig zu sein, Befehle zu befolgen, und all die Traumata, die sie erlitten haben in Chile, die kommen jetzt zum Vorschein. Die meisten sind arbeitsunfähig und psychisch überhaupt nicht in der Lage, sich dem Leben in Deutschland anzupassen."
Wagner: "Bis dahin haben wir alles bekommen. Hier mussten wir sehen, dass wir mit dem bisschen Geld uns überhaupt eine Existenz geschaffen haben. Wir besaßen ja nur das, was wir anhatten."
Auf Menschen wie den Wagners drückt eine doppelte Last: Einerseits müssen sie im Alter in einer ihnen völlig fremden Umgebung – ohne Hilfe - neu anfangen; andererseits müssen sie die Lügen und Leiden der Vergangenheit verarbeiten, müssen verkraften, dass sie einem religiösen Scharlatan gefolgt sind.
Der evangelische Jugendpfleger Paul Schäfer hatte Ende der 50er-Jahre aus dem Umfeld einer Gronauer Baptistengemeinde seine Anhänger rekrutiert. Mit einer Mischung aus diakonischer Arbeit für Kinder und Jugendliche und seinem charismatischen Auftreten gelang es ihm, immer mehr Menschen aus freikirchlichen Gemeinden an sich zu binden.
Henning Freund ist Therapeut und Religionspsychologe in Marburg und hat in Chile die Villa Baviera, wie sich die Colonia Dignidad heute nennt, besucht.
"Die Theologie aus dem freikirchlichen Umfeld setzte sich dort fort, wurde aber sehr stark pervertiert, also ein dualistisches Weltbild von Gottzugewandtheit und dem Teufel auf der anderen Seite, eine Absonderung von der Welt war wichtig. Er war der oberste geistliche Führer, Paul Schäfer, und sie lebten alle in einer endzeitlichen Erwartung, das heißt, sie haben erwartet, dass Jesus bald wiederkommt und alles nur Provisorium ist, dass sie aber eine herausgehobene Gemeinschaft sind."
Die Sektenmitglieder wurden als Arbeitssklaven missbraucht
Einerseits schmeichelte ihnen Schäfer, sie seien Mitglieder einer von Gott auserwählten Gemeinschaft; andererseits wurden sie als Arbeitssklaven missbraucht, berichtet Irmgard Wagner. Vor allem in der Erntezeit musste sie Tag und Nacht schuften.
"Von morgens halb fünf bis nachts um zwölf, eins, dann hatten wir drei Stunden für uns und dann ging es wieder weiter. Da hat uns keiner gefragt, ob wir geschlafen haben oder nicht. Ich bin selber beim Gehen eingeschlafen."
Mehr als 40 Jahre extreme körperliche Arbeit haben ihre Spuren hinterlassen, sagt die Familientherapeutin Susanne Bauer. Sie hat nach dem Tod von Schäfer die Mitglieder der ehemaligen Sekte in der heutigen Villa Baviera in Chile psychologisch betreut.
"Da waren die meisten somatisch schwer belastet durch diese Arbeit, Feldarbeit und harte Arbeit, waren sie wirklich körperlich hinüber und sehr viele mit Depressionen, aber auch posttraumatische Belastungsstörungen."
Und Gudrun Müller, die vor neun Jahren nach Deutschland zurückkam und 40 Jahre Mitglied der Sekte war, ergänzt:
"Er hat immer gesagt: Arbeit ist Gottesdienst, und wir haben gearbeitet von früh bis in die Nacht."
"Eine seiner Methoden war, dass es einen Beichtzwang gab, alle aus der Kolonie mussten zu ihm kommen und alle vermeintlichen Sünden, die sie begangen hatten, berichten, und diese Informationen hat er dann ausgenutzt, um diese Leute auch unter Druck zu setzen."
Das berichtet Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika. Gudrun Müller hat den Beichtzwang hautnah erfahren:
"Beichten musste man jeden Gedanken. Man konnte noch nicht einmal eigene Gedanken haben. Wenn der Schäfer irgendwo durchging: Was denkst du gerade? Dann hat man was gesagt, und dann hat er so lange gedrückt, bis er das rausgekriegt hat, was er hören wollte."
Die Folge beschreibt Hartmut Zeitner, der mit drei Jahren in die Sekte kam:
"Grundsätzlich konnte man keinem vertrauen. Man musste nicht, was der eine über den anderen denkt. Und was er über dich gesagt hat."
Wie viele andere Jungen in der Kolonie wurde auch Hartmut Zeitner Opfer von Paul Schäfers sexueller Gewalt. Hartmut Zeitner galt als einer der wenigen in Schäfers Reich, die sich nicht alles gefallen ließen. Aber auch er wagte nicht, über die sexuelle Gewalt des Sektenführers mit anderen zu reden - zu groß waren Scham und Angst. Wer wie Hartmut Zeitner auch nur Zweifel äußerte, wurde eingesperrt, geschlagen und mit Elektroschocks gefoltert:
"Mit dem Viehtreiber, der wurde zwischen die Beine gehalten und auch nackt direkt auf den Penis, und mit voller Kraft reingedrückt, das hat richtig gebrannt und geschmerzt, wahnsinnig."
Stehle: "Gleich nach der Ankunft in Chile wurden die Familien getrennt, die Frauen, Männer, Kinder mussten separat wohnen, und Sexualität war schon immer ein Tabu und wurde brutal unterdrückt, es wurden sogar aus den Bibeln, die sie dort hatten, Stellen herausgestrichen, die mit Familie, Sexualität oder Reproduktion zu tun hatten."
Jahrzehntelanger Medikamentenmissbrauch
Der Kontakt zwischen Männern und Frauen war für die meisten verboten. Gudrun Müller und ihr jetziger Mann Wolfgang konnten nur heimliche Blicke austauschen oder wenige Worte wechseln.
"Als wir geheiratet haben, da war ich 60. Da war das alles vorbei, was man sich als Familie gedacht hatte."
Heute leben Gudrun und Wolfgang Müller in einem Seniorenheim. Wolfgang Müller hat nach einem Schlaganfall große Probleme mit dem Sprechen. Der Schlaganfall hänge auch mit dem jahrzehntelangen Medikamentenmissbrauch in der Sekte zusammen, sagt Gudrun Müller. Von den Ärzten in der Colonia Dignidad wurden sie gezwungen, täglich Tabletten zu schlucken, ohne zu wissen, was sie da bekamen:
"Das war so eine kleine grüne Tablette, die habe ich jahrelang gekriegt, das war Melleril, mittlerweile weiß ich es."
Melleril ist ein Psychopharmakon und wird normalerweise bei Psychosen verschrieben.
"Da wurde ein System entwickelt, wo Personen durch zwangsweise Vergabe von Psychopharmaka kleingehalten wurden, von denen man vermutete, dass sie sich wehren würden oder Fluchtversuche starten würden. Und das wurde damit verhindert. Und dieses System wurde fortgeführt bis Anfang der 2000er-Jahre."
Das berichtet die Rechtsanwältin Petra Schlagenhoff, die einige Sektenopfer vor Gericht vertritt. Verantwortlich für den medizinischen Bereich in der Colonia Dignidad war der Arzt Hartmut Hopp.
Müller: "Er hat alles angeordnet und unterzeichnet, zum Beispiel die Medikamente."
Schlagenhoff: "Und dafür trägt – aus unserer Sicht – Herr Hartmut Hopp, damals der einzige zugelassene Arzt und Leiter des Krankenhauses, die direkte Verantwortung."
Hartmut Hopp war nicht nur der Arzt der Sekte. Er gehörte auch zum Führungskreis um Schäfer, sagt der Menschenrechtler Dieter Maier. 2006 wurde Hartmut Hopp in Chile zu fünf Jahren Haft verurteilt.
"Er wurde verurteilt wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch, es hängen aber weitere Verfahren in Chile an, so dass er mehr als diese fünf Jahre, die er schon hat, bekommen könnte."
Doch Hopp setzte sich vor der Inhaftierung ab und floh nach Krefeld. Von der Bundesrepublik wird er als deutscher Staatsbürger nicht nach Chile ausgeliefert. So lebt er nun unbehelligt am Niederrhein und besucht dort die Gottesdienste des Predigers Ewald Frank. Ein Mann mit besten Kontakten zur ehemaligen Colonia Dignidad, wie Dieter Maier berichtet.
Hartmut Hopp, ehemaliger Vize-Chef der Colonia Dignidad in Chile, auf einer Aufnahme aus den 80er-Jahren
Hartmut Hopp, ehemaliger Vize-Chef der Colonia Dignidad in Chile, auf einer Aufnahme aus den 80er-Jahren© picture alliance / dpa / Marcelo Hernandez
"Nachdem Schäfer nicht mehr da war, tauchte ein neuer Prediger auf namens Ewald Frank aus Krefeld, und hat seine spirituelle Nachfolge angetreten, Massentaufen veranstaltet, Leute in Deutschland empfangen, die aus der Kolonie kamen, und dieser Mann vertritt ebenfalls eine sehr fundamentalistisch christliche Linie, hat keine theologische Ausbildung, hat aber ein kirchliches Zentrum in Zürich und ein weiteres in Krefeld, das ist die Zentrale."
Wie Hartmut Hopp gehen viele der zurückgekehrten, ehemaligen Sektenmitglieder zur Volksmission nach Krefeld. So auch Heinz und Irmgard Wagner. Sie gehören zu jenen, die der ehemaligen Führung der Colonia Dignidad vergeben haben.
Wagner: "Ich scheue mich nicht zu sagen, dass ich gläubig bin und an meinem Glauben habe ich festgehalten, den ich von meinen Eltern bekomme habe und der hat uns nachher geholfen, dass wir nach Deutschland kamen."
Bauer: "Es ist nicht verwunderlich, dass sie zu ihm hingegangen sind, weil er auch dem Stil Paul Schäfers nahekommt oder entspricht."
Rund 100 ehemalige Sektenmitglieder leben in Deutschland
Weder Hartmut Hopp noch Ewald Frank wollen sich in der Öffentlichkeit äußern. Eine Interviewzusage hat Ewald Frank im letzten Moment zurückgezogen. Er bestätigt zwar, dass ehemalige Sektenmitglieder – auch Hartmut Hopp - zu ihm in die so genannte "Freie Volksmission" kommen, aber er möchte nicht über das Thema reden. Für den Religionspsychologen Henning Freund ist es kein Zufall, dass etliche der ehemaligen Sektenmitglieder in der Freien Volksmission landen.
"Es ist zumindest ein Ort, wo eine ähnliche Form des Glaubens gelebt wird – zwar nicht in den totalitären und menschenverachtenden Zügen wie vorher, aber ich würde es mal als eine Nische bezeichnen, in der die Menschen weiter leben können."
Bauer: "Viele von denen schließen sich wieder der baptistischen Kirche an, sie brauchen einen Führer oder Anführer, oder ein Dogma, an das sie sich wieder anschließen können, nur ganz wenige von ihnen leben quasi auf freiem Fuß, also ohne religiöse Bezugs- oder Anlaufstelle."
Freund: "Daran sieht man, dass für diese Menschen Religion gleichzeitig ein extremes Trauma war, aber auch heute eine Bewältigungsressource für ihr Leben, weil was bliebe den Menschen, wenn sie sich von ihrer Religiosität lossagen würden, dann würde ein wichtiger Baustein ihrer Stabilität, ihrer Bewältigungsformen wegfallen und dann könnten sie ins Bodenlose fallen."
Heute leben rund 100 ehemalige Sektenmitglieder in Deutschland. Die meisten wollen nicht mehr über die Colonia Dignidad reden. Viele wollen nicht wahrhaben, was ihnen angetan worden ist.
Freund: "Diese Menschen haben 40 Jahre nahezu abgeschlossen von der Außenwelt gelebt, sie haben sich in dieser Zeit als etwas Besonderes gefühlt, als Brautgemeinde Christi, als die Gruppe, die am Gott wohlgefälligsten lebt, und nach dem Zusammenbruch der Colonia Dignidad wurden sie gewahr, dass der Rest der Welt über sie ganz anders denkt – dass dort menschenverachtende Dinge passiert sind, dass dort Verbrechen passiert sind, und in dieser Ambivalenz zu sehen, das ist sehr schwierig für diese Menschen."
Die Colonia Dignidad war nicht nur eine Sekte; Paul Schäfer stellte seine Hacienda während der Militärjunta von Pinochet auch dem chilenischen Geheimdienst zur Verfügung, berichtet Petra Schlagenhoff:
"Da sind Leute gefoltert und zum Schluss auch ermordet worden, die Leichen sind Jahre später wieder ausgegraben und verbrannt worden."
Heute leben auf dem Gelände noch rund 150 ehemalige Sektenmitglieder:
Stehle: "2005 wurde Paul Schäfer in Argentinien festgenommen, und dann begann in der Colonia Dignidad ein langsamer Öffnungsprozess, man hat die Tore geöffnet und hat dort ein Restaurant und einen Tourismusbetrieb installiert, die Colonia kann heute besucht werden. Für die Angehörigen vieler Opfer der chilenischen Militärdiktatur ist das ein unhaltbarer Zustand, dass an dem Ort, wo ihre Angehörigen gefoltert und gemordet wurden, heute ein Tourismusbetrieb herrscht, Oktoberfeste und Bierfeste gefeiert werden, während an die Verbrechen, die dort begangen wurden, nichts erinnert. Das ist ein ziemlich unhaltbarer und brutaler Zustand, und die Opfer fordern schon seit langem von der Bundesregierung und der chilenischen Regierung, dass an dieser Stelle auch ein Mahnmal errichtet wird, dass das Thema auch von politischer Seite aufgearbeitet wird."
Auch auf den ehemaligen Sektenmitgliedern, die heute in Deutschland leben, lastet die Vergangenheit noch immer wie ein Fluch. Gudrun Müller ist noch immer wütend und traurig, dass – wie sie sagt – Verbrecher wie Hartmut Hopp unbehelligt in Deutschland leben.
"Dass er jetzt Hartz IV bezieht, das finde ich unverschämt, unverschämt! Ja, er sei so wie wir: ein Opfer. Das war er nie, von Kind an nicht. Er war nie ein Opfer."
Gudrun Müller gehört zu den wenigen, die anklagen; die auch bereit sind, vor Gericht auszusagen über den Medikamentenmissbrauch, über die Schläge, die Elektroschocks. Dennoch ist sie vorsichtig.
"Ich gucke auch immer, wer hinter mir und vor mir geht, weil ja genug hier sind in Deutschland, genug, die auf Hopps und auf Schäfers Seite immer noch sind, weil sie ja profitiert haben."
Hartmut Zeitner ist nicht auf der Seite von Hopp und Schäfer. Doch die Vergangenheit holt auch den 54-Jährigen immer wieder ein.
"Ich kann es in so weit verdrängen, als dass ich nun ein freier Mensch bin und Abstand halten kann von unseren Leuten, aber es bleibt trotzdem noch. Man ist in gewisser Weise in Gefangenschaft, wenn man mit unseren Leuten in Kontakt kommt, immer wieder, weil die Gedankengänge immer wieder einfach so kommen. Ob man will oder nicht. Unser Leben ist so eingebrannt, deshalb kriegen wir auch kein Familienleben zustande, und da leidet man drunter. Die Vergangenheit holt einen immer wieder zurück."
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