Suche nach der verlorenen Identität

Szene aus dem Kinofilm "Der rote Punkt" von Marie Miyayama.
Szene aus dem Kinofilm "Der rote Punkt" von Marie Miyayama. © Movienet Film, Chris Hirschhaeuser
Von Christian Geuenich · 03.06.2009
Eigentlich war für Marie Miyayama, die in einer Vorstadt von Tokio geboren und aufgewachsen war, eine andere Laufbahn geplant: Sie sollte studieren, arbeiten, heiraten und schließlich Hausfrau werden. Letztlich wurde sie Filmemacherin. Ihr Debütfilm kommt jetzt in die Kinos.
Das erste Bild in Marie Miyayamas Debütfilm "Der rote Punkt": Ein japanisches Kind sitzt auf der Rückbank eines Autos und zählt von 1 bis 20. Diese Erinnerungen tauchen immer wieder in den Träumen der 22-jährigen japanischen Studentin Aki Ondera auf. Als Kind hat sie im Ostallgäu ihre Eltern und ihren kleinen Bruder bei einem Autounfall verloren und als Einzige überlebt. Der Unfallverursacher beging Fahrerflucht. In der Abstellkammer ihrer Tante findet Aki nun in einem Paket eine Landkarte mit einem roten Punkt, der die Stelle markiert, an der sie starben. Bei der Spurensuche nach ihren Eltern in Bayern trifft sie Elias und seine zerrüttete Familie.

Elias: "Du sagst, es gibt einen Stein, aber was für einen Stein?"
Aki: "Es ist für meine Familie."
Elias: "Ist was mit deiner Familie passiert?"
Aki: "Es war ein Unfall!"

Schließlich findet Aki den Gedenkstein, übergießt ihn in einer Zeremonie mit Reiswein und bringt den Toten in einem symbolischen Akt mit Seetang umwickelte Reisbällchen.

"Der Rote Punkt" ist ein sehr reifes Erstlingswerk, ein fast meditativ ruhig erzählter Film mit kunstvollen Bildern, der auch Raum für Stimmungen und Zwischentöne lässt.

Marie Miyayama: "Für mich ist das, so wie ich mein Leben führe und was ich für einen Film mache, sehr eng miteinander verbunden. Das kann ich gar nicht trennen. Diese interkulturelle Kommunikation, wie man auch ohne Sprache miteinander zurechtkommt, ist für mich eine sehr naheliegende Thematik."

Marie Miyayama ist zierlich, nur 1,55 Meter groß, und trägt ein petrolblaues Leinenkleid mit Holzknöpfen über der Jeans. Seit 14 Jahren lebt die 37-jährige japanische Regisseurin mit den schwarzen kurzen Haaren und den mandelförmigen braunen Augen in München, wo sie auch auf die Hochschule für Fernsehen und Film gegangen ist. "Der rote Punkt" ist ihr Abschlussfilm, sie hat ihn selbst geschnitten und damit den Erzählrhythmus der Geschichte vorgegeben. Beim Prozess des Filmemachens vom Schreiben über das Drehen bis zum Schnitt gefällt ihr erstaunlicherweise gerade die Arbeit im Schneideraum am besten.

"Generell finde ich Schreiben sehr anstrengend, und ich muss viel rumprobieren. Und Drehen mit Schauspielern, das ist für mich wie ins Wasser zu springen, das ist ein Chaos und sehr anstrengend und viele unerwartete Probleme. Ich muss einfach schwimmen, bis ich ankomme. Und im Schneideraum habe ich endlich meine Ruhe und die Bilder sind da. Ich habe meinen Tee, Schokolade."

Marie Miyayama ist in einer Vorstadt von Tokio aufgewachsen, der Vater Angestellter, die Mutter Hausfrau. Das Rollenverständnis in der Familie ist traditionell, und auch ihr Weg scheint vorgezeichnet: studieren, arbeiten, heiraten, Hausfrau. Dass es anders gekommen ist, liegt an einem Schlüsselerlebnis, das ihr zeigt, dass es auch noch andere Möglichkeiten gibt, sein Leben zu gestalten. Mit 16 Jahren sieht sie im Kino Wim Wenders Film "Alice in den Städten", ein Roadmovie durch Deutschland.

"Diesen Film musste ich einfach sofort noch mal gucken. Es gibt nicht unbedingt irgendetwas, was man mit Worten klar fassen kann, was es ist, aber das hat mich so tief angesprochen, da gibt es irgendwas, was das Leben ist, etwas Unfassbares, was man nicht mit Worten erklären kann."

Nach der Schule studiert Marie Miyayama zunächst Filmwissenschaft und Kreatives Schreiben an der renommierten Waseda Universität und dreht erste Super-8-Experimentalfilme. Nach ihrem Abschluss lernt sie am Goethe-Institut in Tokio und in Prien am Chiemsee deutsch, um in München an der gleichen Filmhochschule wie einst ihr großes Vorbild Wim Wenders zu studieren. Zwei Mal wird sie dort allerdings abgelehnt, überbrückt die Wartezeit mit einem Studium der Theaterwissenschaften, findet Freunde und lernt die deutsche Mentalität noch besser kennen.

"In Deutschland, wenn man schweigt, wird man gar nicht berücksichtigt, in Japan ist es das Gegenteil. Wenn man schweigt, wird man von anderen für schlau gehalten, und wenn man schlau ist, hält man lieber den Mund. Das ist der große Kulturunterschied."

Im dritten Anlauf, im Alter von 26 Jahren, wird sie an der Filmhochschule angenommen, verdient ihr Geld für das Studium als Dolmetscherin, Sprachlehrerin und Übersetzerin. Ihr deutscher Mann, der die Musik zu ihrem Debütfilm komponiert hat, ist ihr wichtigster Ratgeber, er unterstützt sie, wenn sie beim Schreiben mal wieder verzweifelt. So wie jetzt gerade, wo sie an ihrem nächsten Drehbuch sitzt, einer Mischung aus Roadmovie und Komödie über einen 17-jährigen Deutschen, der in eine japanische Kleinstadt kommt. Sie selbst sei ein Mensch, der in beiden Ländern zu Hause ist, sagt Marie Miyayama. Der Platz als Vermittlerin zwischen den Kulturen gefällt der japanischen Wahl-Münchnerin gut.

"In Deutschland bin ich eine Japanerin, ich kann mich ganz gut mit den Deutschen unterhalten und sie verstehen, aber habe einen anderen Blick. Und in Japan fühle ich mich nicht mehr so rein japanisch, weil ich viele andere Sachen kennen gelernt habe. Deswegen muss ich beide Blickfelder als Filmemacher nutzen."

Service:
Marie Miyayama stellt ihren Film im Rahmen einer Kinotour vor:
03. Juni 2009, 19 Uhr Frankfurt am Main, Orfeos Erben
04. Juni 2009, 19.30 Uhr Berlin, Eiszeit
05. Juni 2009, 19 Uhr Düsseldorf, Metropol