Stuttgart 21 und die ästhetische Traumatisierung

Von Reinhard Knodt · 16.11.2010
In Stuttgart ist es durch Fehler der Landesregierung zu einer Eskalation gekommen, deren Wucht erstaunt. Man fragt sich, woran sich der Protest entzündet hat und vor allem, was ihn aufrecht hält.
Sind es instinktlose Politiker oder korrumpierte Planer, ist es die Wut über Immobilienspekulationen der Bahn AG mit den ehemaligen Gleisanlagen oder schlicht politischer Unmut? Wenn man sich die Argumente der Gegner – und zwar nicht die der professionellen von links bis Grün, sondern die der beteiligten Bürger – ansieht, ist auffällig, dass eine Reihe von Argumenten sozusagen eher ästhetischer Natur ist.

Durch den Neubau würden die "großzügigen Parkanlagen Stuttgarts" "aufgeschlitzt", liest man da auf einer Homepage. Nach Fertigstellung des unterirdischen Bahnhofs würde eine baumlose Bodenwelle "mit Glubschaugen" sein, wo bisher alte Bäume standen. In anderem Zusammenhang heißt es, dass der alte Stuttgarter Hauptbahnhof nun "seiner Flügel beraubt" werde, dass aus einer Ankunft mit "Blick auf Stadt, Park und Weinberge nun eine Ankunft "im Keller" würde. Und auch entfernt vom zentralen Geschehen hört man ästhetische Argumente, etwa die Klage, dass die Bahn AG nichts mehr für die "hübschen" Bahnhofsgebäude aus dem vorigen Jahrhundert täte.

Was diese Argumente gemeinsam haben ist die Tatsache, dass sie bis vor kurzer Zeit nicht politikfähig waren. Was heißt schon "aufschlitzen" einer Parklandschaft, was soll die gefühlige Rede vom Blick auf Stadt und Weinberge? Und es mag ja immerhin sein, dass jemand die Funktionsgebäude aus der Kaiserzeit handwerklich hübscher findet als die neuen Bahnsteige. Doch ernstzunehmende Argumente waren das bisher nicht. Eher schien es, als würden einige Sentimentale vom Verlust ihrer Erinnerungswelt reden. Bürger, die dazu wahrscheinlich auch noch völlig ignorant gegenüber zeitgenössischer Architektur und Wohnkultur waren.

In Stuttgart steht die sogenannte Weißenhofsiedlung. Es ist eine aus den 20er Jahren stammende Mustersiedlung moderner Architektur, die Mies van der Rohe organisierte. Die Weißenhofsiedlung wirkt heute erstaunlich zeitgemäß, vermutlich weil sich die sogenannte "moderne" Architektur seither kaum weiter entwickelt hat. Es ist eine ornamentfreie Funktionsbauweise, die damals stolz darauf war, die bürgerlichen Traditionen der Architektur aufgegeben zu haben, die also keine Säule, kein Kapitel, kein Sims, kein Portal und keine Schmuckleiste mehr anerkannte, die bis heute vor allem weiße Würfel aufeinander türmt und die wohl auch durch postmoderne Spielereien oder kühne Mall-Fassaden kaum attraktiver wurde. – Kann es angesichts der eher sparsamen Erfolge der Architekturmoderne in deutschen Städten nicht sein, so fragt man sich, dass das neue Stadtviertel, welches man nun den Stuttgartern anstelle der Gleisanlagen verspricht, eher traumatische Visionen auslöst?

Auf dem neuen Gelände plant die ECE, eine Tochter des Otto-Versandhauskonzerns und europaweit eine der größten Immobilien-Entwicklungsgesellschaften, eine Mall von 43 000 Quadratmetern. Die ansonsten anstehenden Bauformen der Computerarchitektur, wie sie längst massenhaft nach China und Indien exportiert werden, dürften angesichts der eher bedrückenden Leistungen der Architekturmoderne wenig Hoffnung in Punkto Lebensqualität verbreiten. Und für solch triste Visionen möchte man in Stuttgart offenbar nicht auch noch "im Keller" ankommen, womöglich an einem Haltepunkt mit direktem Zugang zur neuen ECE-Mall.

Architektur, die Bodenspekulationen der Bahn und das politische Geschäft sind in Deutschland eine unheilige Allianz eingegangen, und nachgeholte Wirtschaftlichkeitsrechungen werden der Tatsache kaum gerecht, dass die Bürger offenbar meinen, zu ihrem Lebensglück weder zusätzliche Geschwindigkeit, noch die Ausgeburten der Architekturmoderne zu brauchen. Ästhetische Urteile seien heute wichtiger geworden als Interessen, vermerkt kürzlich die ZEIT – vielleicht noch etwas vorschnell, doch erkennbar bleibt, dass ästhetische Argumente eine Lobby finden dürften und damit in Zukunft auch Politik beeinflussen.


Reinhard Knodt, Schriftsteller, Funkautor, Publizist, geboren 1951, ist Publizist und Rundfunkautor in Berlin. Als Verfasser zahlreicher philosophischer Essays zur Kulturkritik (eine Sammlung erschien bei Reclam) war er Lehrbeauftragter, Vortragsredner und Lehrstuhlvertreter an zahleichen Universitäten im In- und Ausland, darunter Collège de France, Penn State University, UCD Dublin, HDK-Kassel, die Universitäten Freiburg, Bamberg, Bayreuth, Erlangen-Nürnberg, Hannover und UDK Berlin. Er erhielt mehrere Kulturpreise, darunter den Friedrich-Baur-Preis für Literatur 2007 der bayerischen Akademie der Künste.