Stummfilm "Das alte Gesetz" auf der Berlinale

Blick zurück in eine verloren gegangene jüdische Welt

Der restaurierte Stummfilm "Das alte Gesetz" von Ewald André Dupont wird auf der Berlinale gezeigt.
Dank aufwendiger Restaurantionsarbeit wurde der Film "Das alte Gesetz" von 1923 zu neuem Leben erweckt. © Deutsche Kinemathek / Berlinale
Von Wolfgang Martin Hamdorf · 16.02.2018
Auf der Berlinale wird der Stummfilm "Das alte Gesetz" von 1923 wieder gezeigt. Die restaurierte Fassung versprüht jüdisches Selbstbewusstsein, sagt unser Kritiker Wolfgang Martin Hamdorf.
Bei der Berlinale kommt es zu einer Premiere der ganz eigenen Art: Der Stummfilm "Das alte Gesetz" aus dem Jahr 1923 wird wieder aufgeführt, gedreht von einem wichtigen Stummfilmregisseur seiner Zeit, André Ewald Dupont. "Das alte Gesetz" spielt im Schtetl in Osteuropa und zeigte damals eine Welt, die es bald nicht mehr geben sollte. Die These des Filmes: Man kann das jüdische Religionsgesetz und das moderne Leben sehr wohl in Einklang bringen. Die Religion steht nicht als hoffnungslos rückschrittlich da. Gezeigt wird eine restaurierte Fassung, damit das Publikum sieht, was der Regisseur plante, bevor die Zensur zuschlug. Das Werk sprüht in der neuen, originalgetreuen Fassung vor jüdischem Selbstbewusstsein.

Leben nach Vorschriften der Thora

"An der Westgrenze der russischen Tiefebene liegt weltverloren ein Judenstädtchen" erzählt die einleitende Texttafel des Films. Über einstöckigen Holz- und Steinhäusern geht die Sonne auf. Das Purimfest steht vor der Tür, die fröhliche Feier mit Verkleidungen, Geschenken und viel Alkohol. Der Synagogendiener, der "Schulklopfer", wie es im Jiddischen heisst, weckt die Gemeinde zum Gebet. Auch den Rabbi Meyer mit seiner Frau und seinem Sohn Baruch. Man lebt, daher auch der Titel des Films, nach dem "Alten Gesetz", den streng ausgelegten Vorschriften der Thora.
In der Synagoge setzen sich die Männer in den großen Saal, die Frauen haben auf der Empore Platz genommen, abgeschirmt hinter beweglichen Holzplatten. Hier in der kleinen Gemeinschaft könnte Baruch glücklich sein und Esther, die Tochter des Synagogendieners, heiraten. Aber er träumt davon Schauspieler zu werden, das Schtetl zu verlassen und im fernen Wien sein Glück zu versuchen. Mit den religiösen Prinzipien des Vaters sind seine Pläne nicht zu vereinbaren und der Rabbi verstößt den Sohn aus der Familie und aus der der dörflichen Gemeinschaft.

Rekonstruktion des Alltags im Schtetl

Der mehr als zweistündige Stummfilm rekonstruiert fast dokumentarisch den jüdischen Alltag im galizischen Schtetl, vom Purim- über das Pessach- bis hin zum Versöhnungsfest, sagt Filmrestaurator Daniel Meiller:
"Es ist aber auch nicht, und das muss man betonen, ein Schauwert für sich, denn er ist auch in die Dramaturgie eingebunden. Es gibt Parallelmontagen, die Theaterpremiere auf der einen Seite und die Vorbereitungen zum Pessachfest auf der anderen Seite. Es werden Handlungen und Momente verknüpft oder der verstossene Sohn darbt des Hungers und muss Brotkrumen essen, während zu Hause das Sabbatfest vorbereitet wird."
1923 gedreht, führt "Das alte Gesetz" zurück in das Jahr 1860, in die Zeiten der Habsburger Monarchie. Der Film stellt das jüdischen Leben im Schtetl der mondänen Wiener Hofgesellschaft gegenüber, geht aber dabei über gängige Klischees hinaus, sagt der Filmhistoriker Martin Koerber:
"Was wir doch in beiden Welten haben ist eine sehr genaue Beobachtung der Gefühlswelt der Gestalten um die es da geht und da geht es dann über die Typisierung weit hinaus. Das ist sehr differenziert dargestellt und auch die so genannten Bösen, oder diejenigen, die zurück gelassen werden im Schtetl, der Vater zum Beispiel, sind durchaus dreidimensionale Figuren und nicht einfach Pappkameraden."

Der Konflikt

Während Baruch, von höchster Stelle protegiert, am Burgtheater Karriere macht, bereut der Rabbi seine harte Haltung dem Sohn gegenüber. "Das alte Gesetz" erzählt von orthodoxem Religionsverständnis und von Emanzipation. Das ist ein Konflikt, den andere zeitgenössische Filme über die Liebesbeziehung eines jüdischen Mannes zu einer nicht jüdischen Frau (oder umgekehrt) dramatisieren und auflösen. In "Das alte Gesetz" gelingt es dagegen Regisseur Ewald André Dupont die Gegensätze zu versöhnen:
"Da ist dieser Film aussergewöhnlich, weil er alle diese doch eher konventionellen Sachen nicht macht. Sondern der behauptet eine jüdische Selbstbewusstheit, die trotzdem auch auf der Emanzipation beharrt, aber das alte Gesetz eben auch nicht aufgibt. Der Baruch heiratet seine Esther und gibt sich nicht Affären mit anderen Schauspielerinnen oder gar mit der Erzherzogin hin und der Vater gibt ihm im Grunde genommen hinterher auch das Recht dazu. Der macht ja seinen Frieden mit dieser Sache, nachdem er ihn auf der Bühne gesehen hat."

Veränderungen des Inhalts

"Das alte Gesetz" wurde bereits 1984 von der Deutschen Kinemathek als Schwarz-Weiss-Fassung restauriert: auf der Basis von vier unterschiedlichen Versionen aus verschiedenen ausländischen Archiven. Vor kurzem wurde jedoch die Zensurkarte wieder gefunden, also die amtlich bestätigte Liste der von der Zensur zugelassen Texttafeln. Jetzt konnten die fehlenden Zwischentitel ergänzt und der Film in seiner Originalfassung, farbig viragiert, rekonstruiert werden. Dabei veränderte sich auch der Inhalt: Es gibt im Film eine Szene in der sich Baruch vor dem Spiegel die traditionellen Schläfenlocken abschneidet.
In der Hälfte aller vorliegenden alten Fassungen des Films tut er das, bevor er im Burgtheater vorspricht, um seine Chancen zu verbessern, sagt Daniel Meiller:
"Die Zensurkarte belegt allerdings eindeutig, dass diese Lockenszene nach der Szene im Theater stattfindet, das heisst nachdem er als Schauspieler angenommen wurde und das dreht die Geschichte ein bisschen um , weil das Abschneiden der Locken nicht als eine Anbiederung und nicht als Mittel zum Zweck passiert, sondern als eine Folge: Baruch hat das erreicht, was er wollte, er kommt in einer westlich-christlichen Welt an und als ein freiwilliger Akt der Emanzipation, könnte man jetzt auch sagen, schneidet er sich die Locken ab, weil er sich sagt: Ich bin dort angekommen, nun will ich auch dieses äussere Zeichen ablegen. Und das ist eine eindeutige Uminterpretierung, die wir vornehmen konnten, weil viele ausländische Fassungen und auch die von 1984 das anders dargestellt haben."

Neue Musik

Der französische Komponist Philippe Schoeller hat eine neue Musik zu dem Film geschrieben. Sie ist keine folkloristische Untermalung, sondern abstrakt fast verfremdend. So fügt sie den Filmbildern von 1923 auch das Wissen um die Geschichte hinzu. Denn im Konflikt zwischen orthodoxem und liberalem Judentum ist "Das alte Gesetz" ein versöhnlicher Film: Ein Familiendrama mit glücklichem Ende, aber auch ein Blick zurück in eine verloren gegangene Welt, die der jüdischen Kultur in Galizien vor ihrer Vernichtung. Schon zehn Jahre nach der Premiere des Films hatten die Nazis die Macht in Deutschland übernommen und viele Mitarbeiter des Films, etwa Hauptdarsteller Ernst Deutsch oder Regisseur Ewald André Dupont, mussten Deutschland ihrer jüdischen Wurzeln wegen verlassen.
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