Studie zu Triage im Klinikalltag

"Die Rechtsunsicherheit ist groß"

09:45 Minuten
Dilek Kalayci, Berlins Gesundheitssenatorin, lässt sich auf der Intensivstation des Vivantes Humboldt-Klinikum im Stadtteil Reinickendorf die Beatmung an einer Dummy-Puppe zeigen.
Beatmung an einer Dummy-Puppe in einem Berliner Krankenhaus: In Triage-Situationen, hervorgerufen durch eine Vielzahl von Corona-Erkrankungen, könnte eine solche intensivmedizinische Versorgung knapp werden. © picture alliance/Kay Nietfeld/dpa
Katja Gelinsky im Gespräch mit Dieter Kassel · 02.11.2020
Audio herunterladen
Wer wird vorrangig behandelt? Wer muss warten – eventuell so lange, bis er verstirbt? Zu den sogenannten Triage-Entscheidungen im intensivmedizinischen Alltag fehlen gesetzliche Handlungsvorgaben, sagt die Juristin Katja Gelinsky.
Wenn das Wort "Triage" verwendet wird, dann geht es um die Lage schwerkranker Menschen in überfüllten Krankenhäusern. Falls aufgrund fehlender Kapazitäten nicht alle gerettet werden können, sind Ärzte dazu gezwungen, darüber zu entscheiden, wer vorrangig behandelt wird.
Eine neue Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung vergleicht die Triage-Regeln in Deutschland und acht anderen europäischen Ländern. Die Autorin der Studie, die Juristin Katja Gelinsky, macht im Interview mit Deutschlandfunk Kultur deutlich, dass es europaweit keine gesetzlichen Regelungen zum Umgang mit der ärztlichen Entscheidungsfindung in Triage-Situationen gibt.

Klinische Erfolgsaussicht als Leitlinie

Grobe Leitlinie der Entscheidung sei die "klinische Erfolgsaussicht", so Gelinsky. In allen untersuchten Ländern stehe im Mittelpunkt der Entscheidung, möglichst viele Menschenleben zu retten.
Unterschiedliche Empfehlungen gebe es im Hinblick auf das Alter der Patienten. Diskutiert werde in der rechtswissenschaftlichen Literatur auch eine Vorrangstellung von Gesundheitspersonal. In Deutschland sollen, den geltenden Empfehlungen entsprechend, jedoch "soziale Kriterien" wie etwa der Beruf keine Rolle spielen. Norwegen gebe hingegen dem Gesundheitspersonal Priorität.

Rechtsunsicherheit und Verfassungsbeschwerde

Es gebe viele Streitfragen und die Rechtsunsicherheit sei groß, sagt Gelinsky. Derzeit sei eine Verfassungsbeschwerde von Behindertenverbänden beim Bundesverfassungsgericht anhängig. Vertreten werde in der Beschwerde die Auffassung, dass diese rechtliche Unsicherheit nicht hingenommen werden könne. Der Gesetzgeber müsse Kriterien festlegen, ohne dass Menschen "medizinisch aussortiert" würden.
Es gebe andererseits Juristinnen und Juristen, die den Gesetzgeber lieber außen vor ließen. Diese seien der Auffassung: "Das Thema ist so heikel, das kriegen wir nicht hin."
(huc)
Mehr zum Thema