Studie und Streitschrift

Dunkle Szenarien der Wirtschaftswelt

Der deutsche Aktienindex
Der Siegeszug des transnationalen Finanzkapitalismus ist für Friedhelm Hengsbach verantwortlich für extreme soziale Ungleichheit. © imago/ Hans-Günther Oed
Von Holger Heimann · 17.01.2015
Lösungsansätze angesichts der Schattenseiten des Kapitalismus: Der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach plädiert in seiner Studie "Teilen, nicht töten" für neue Wege des sozialen Miteinanders. Und der Journalist Matthias Drobinski fordert, den globalen Markt zu zähmen.
Von den Bankern in Frankfurt, den Managern in New York, den Marktgläubigen auf der ganzen Welt wird einer wie der Papst gern als weltfremder Phantast belächelt. "Diese Wirtschaft tötet!" hat Franziskus in "Die Freude des Evangeliums", einer Art Programmschrift, formuliert. Härter und deutlicher geht es nicht. Falscher auch nicht, sagen sie in den Konzernzentralen. Denn hat sich die Marktwirtschaft nicht gegenüber der sozialistischen Planwirtschaft als überlegen gezeigt? Und hat sie nicht vielen zu Wohlstand und einem besseren Leben verholfen. Durchaus. Aber zu welchem Preis? Diese Frage des Papstes ist Anstoß für zwei schmale, engagierte Bücher.
Der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach hat seine Studie ein wenig unglücklich mit "Teilen, nicht töten" überschrieben. Seine Betrachtungen konzentrieren sich vor allem auf Deutschland. Sie sind stark und eindrucksvoll zuallererst dort, wo sie extreme soziale Ungleichheit beschreiben, mögen die Belege dafür auch keineswegs neu sein:
Cover: "Teilen, nicht töten" von Friedhelm Hengsbach
Cover: "Teilen, nicht töten" von Friedhelm Hengsbach© Westend Verlag
"Während 1989 die Vorstände der größten börsennotierten Unternehmen ein Jahresgehalt von umgerechnet einer Viertelmillion Euro bezogen, stieg dieses bis 2010 auf sechs Millionen Euro an. Der Abstand zum durchschnittlichen Entgelt eines Arbeiters erhöhte sich von 20 zu 1 auf 200 zu 1. Im Jahr 2010 bezog der Vorstandsvorsitzende von VW, Martin Winterkorn, ein Jahresgehalt von 17 Millionen Euro."
Plädoyer für einen Paradigmenwechsel
Man darf das getrost ein wenig länger wirken lassen. Hengsbach macht für die dramatische Entwicklung in erster Linie den Siegeszug eines transnationalen Finanzkapitalismus über einen sozial temperierten Kapitalismus verantwortlich – mit anderen Worten die Dominanz marktradikalen Denkens angloamerikanischer Prägung. Ziel sei nicht mehr die Steigerung der Wertschöpfung, sondern nur noch die Steigerung des Profits. Diese Engführung verkörpert sich für ihn in einer verqueren Logik. Denn obschon Reichtum kollektiv geschaffen wird, geschieht die Aneignung selektiv und asymmetrisch: Während der zu zahlende Lohn als Kostenfaktor definiert wird, fließen die Überschüsse auf die ohnehin schon üppigen Konten von Kapitaleignern und Bossen wie Winterkorn.
Hengsbach plädiert für einen Paradigmenwechsel – für ein Teilen beim Prozess der Wertschöpfung, anstelle einer späten Umverteilung, nachdem die Gewinne bereits einseitig zugeordnet wurden. Ob solch ein Wandel indes durch weniger als eine Revolution herbeizuführen ist, bleibt zweifelhaft. Der Autor analysiert selbst bündig:
"Exklusiver Reichtum ist mit wirtschaftlicher Macht verbunden, die sich in politische Macht verwandelt und staatliche Entscheidungsträger vor sich hertreibt."

Matthias Drobinski: "Diese Wirtschaft tötet"
Süddeutsche Zeitung Edition, München 2014
48 Seiten, 4,90 Euro

Verlust anthropologischer Orientierung
Der Journalist Matthias Drobinski hat seiner Streitschrift das Diktum des Papstes unverändert als Titel mitgegeben: "Diese Wirtschaft tötet". Da er im Gegensatz zu Hengsbach eine internationale Perspektive wählt, ist das Zitat hier insgesamt auch weitaus passender. Deutlich wird das gleich zu Beginn, wenn der Redakteur der "Süddeutschen Zeitung" an den Einsturz eines maroden Gebäudes in Bangladesh erinnert. Die Bilder gingen um die Welt: Hunderte Frauen waren in dem Bau zusammengepfercht, um Kleider für europäische Billigmarken zu nähen. Sie wurden alle begraben. Vor dem Hintergrund solch einer apokalyptischen Szenerie bezeichnen die harschen Papst-Worte für Drobinski eine nur allzu offensichtliche Wahrheit:
"Es gibt eine Macht, die hinter diesen Toden steht. Es ist die Macht einer globalisierten Wirtschaft, die Macht des Geldes und des Kapitals, eines weltweiten Marktes, auf dem das Gesetz des Stärkeren regiert. Sie tötet, weil sie maßlos ist, wenn man sie nicht begrenzt, diese Macht. Sie tötet, weil sie in den Menschen die Gier nach Profit weckt, bis sie die anderen Menschen vergessen."
Cover: "Diese Wirtschaft tötet" von Matthias Drobinski
Cover: "Diese Wirtschaft tötet" von Matthias Drobinski© Süddeutsche Zeitung Edition
Auf wenigen Seiten beschreibt der Journalist, wie das ökonomische Denken sich alle gesellschaftlichen Sphären unterworfen hat. Wie der Kapitalismus zu einer säkularen Religion wurde, in der die Frage nach Gewinn und Verlust über allem steht und als Folge eine grundlegende anthropologische Orientierung mehr und mehr verloren geht.
Vage Hinweise auf Auswege
Drobinski fordert deshalb – angelehnt an das berühmte Zitat Kants – eine neue Aufklärung und den Ausgang des Menschen aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit. Für den Autor bedeutet das zum einen, nicht länger dem Glauben anzuhängen, dass eine unsichtbare Hand den globalen Markt zum Guten lenkt. Zudem gelte es Klarheit darüber zu gewinnen, dass die Wirtschaft keine anonyme Macht ist, sondern eine von Menschen kreierte und folglich zu beeinflussende Ordnung:
"Die Globalisierung braucht ein globales Gegenüber – so wie im 19. Jahrhundert die Arbeiterbewegung das mächtige und kampfbereite Gegenüber der Industrialisierungsprozesse war. Sie braucht Menschen, die nicht einfach hinnehmen, was ist."
Beide Bücher liefern eindrucksvolle und lesenswerte Beschreibungen einer unheilvollen Realität. Das äußerst dunkel gefärbte Szenario der gegenwärtigen Wirtschaftswelt macht nachdenklich. Hinweise auf Auswege hingegen bleiben vage und häufig im bloß Appellativen oder Skizzenhaften stecken. Doch mit mehr Konkretion kann vorläufig auch der Papst nicht dienen.

Friedhelm Hengsbach: "Teilen, nicht töten"
Westend Verlag, Frankfurt am Main 2014
128 Seiten, 12 Euro

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