Studie über islamische Radikalisierung

"Persönliche Probleme treiben in die Radikalität"

Ein Jugendlicher sitzt am Bildschirm eines PCs, der die Flagge der Terrormiliz IS zeigt.
Islamisten versuchen auch, Jugendliche und Kinder anzuwerben. © imago / Ralph Peters
Fabian Srowig im Gespräch mit Thorsten Jabs · 14.01.2018
Welche Rolle spielt die Religion, wenn junge Muslime sich radikalisieren? Ein zweijähriges Forschungsprojekt befragt Jugendliche, die sich als islamistische Aktivisten strafbar gemacht haben.
Thorsten Jabs: Wenn sich ein junger Mensch radikalisiert, über Attentate nachdenkt oder diese vielleicht sogar irgendwann begeht, dann stellt sich zwangsläufig die Frage: Wie konnte es so weit kommen? Vor allem über die Rolle von Religion und Religiosität wird in der Öffentlichkeit und in der Wissenschaft heftig debattiert. In Deutschland möchte jetzt das Projekt "Religion als Faktor der Radikalisierung" Antworten darauf finden. Gefördert wird es mit fast 400.000 Euro vom Bundesfamilienministerium, verantwortlich ist das Forschungsnetzwerk Radikalisierung und Prävention an den Universitäten Osnabrück und Bielefeld. In Bielefeld ist Fabian Srowig vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung beteiligt – guten Tag, Herr Srowig!
Fabian Srowig: Guten Tag, Herr Jabs!
Jabs: Herr Srowig, der Titel der Studie lautet "Religion als Faktor der Radikalisierung". Um welche Religionen geht es da genau?
Srowig: Im Prinzip fokussieren wir uns zunächst einmal auf den Islam, da in den letzten Jahren einfach als Radikalisierungsfaktor die islamische Religion doch sehr im Vordergrund stand.
Jabs: Warum nennt man die Studie dann nicht "Islam als Faktor der Radikalisierung"?
Srowig: Da es natürlich auch andere Radikalisierungsprozesse gibt, die durch andere Religionen angestoßen werden können. In unseren vorherigen Forschungen haben wir uns aber bisher ausschließlich auf den Islam konzentriert, in Deutschland.
Jabs: Wie wird das in der Wissenschaft diskutiert, gibt es denn zum Beispiel auch christlichen Radikalismus, den man untersuchen könnte?

Religionsverständnis anders als bei moderaten Muslimen

Srowig: Den gibt es durchaus, jedoch ist es in Europa doch eher ein Randphänomen, da wir jetzt von Radikalisierung ausgehen, Radikalisierung hin zu einer extremistischen Islam-Auslegung. Und da haben wir im christlichen Bereich oder in anderen religiösen Bereichen durchaus eine Radikalisierung, die wir jedoch eher mit einer Fundamentalisierung beschreiben würden. Da geht es eher wirklich um religiöse Inhalte und weniger um politische Extremismen wie in dem islamistischen Milieu.
Jabs: Sie haben es ja schon angedeutet, Sie waren schon an Studien über Radikalisierung und terroristische Gewalt beteiligt. Welche Hypothesen nehmen Sie daraus mit für diese neue Studie?
Srowig: Nun ja, wir haben uns vor allen Dingen junge Menschen angeschaut, die sich so als islamistische Aktivisten strafbar gemacht haben hier in Deutschland. Und was wir daraus mitnehmen, ist natürlich, dass es um eine Vielzahl von Faktoren bei der Radikalisierung geht. Uns ist besonders ins Auge gefallen, dass bei Jugendgruppen oder bei Jugendlichen vordergründig die Religion eine große Relevanz hat, wir aber dann festgestellt haben bei den Analysen, dass das Religionsverständnis dieser jungen Menschen nicht wirklich übereinstimmt mit dem von moderaten Muslimen. Die Frage war dann dahinter, was für religiöse oder theologische Kenntnisse besitzen überhaupt Akteure im islamistischen oder im dschihadistischen Bereich. Und die Frage ist, welche biografische Funktion besitzt auch Religion in deiner adoleszenten Phase.
Jabs: Sie sprechen von Faktoren. Welche sind das abseits von Religion zum Beispiel?
Srowig: Es gibt durchaus psychologische Faktoren, die eine Relevanz haben, das können Traumata oder auch psychische Erkrankungen gewesen sein, aber auch Missbrauchserfahrungen in der Familie. Es gibt eher soziologische Motive, da geht es eher um Ausgrenzung, um Deprivation, Diskriminierungserfahrungen in der Gesellschaft. Es gibt aber durchaus auch geopolitische Faktoren. Da reden wir dann eher über die Kriege im Nahen Osten oder den Krieg gegen den Terror, der von den USA geführt wird. Das sind Sachen, die dann auch sehr schnell eine ideologische Komponente bekommen, da dort halt direkt Politik und extremistisches Gedankengut mitgedacht wird.

Sind Moscheen die richtige Adresse für Präventionsarbeit?

Jabs: In den Medien hat ein wissenschaftlicher Diskurs zwischen den französischen Forschern Gilles Kepel und Olivier Roy für Aufsehen gesorgt. Verkürzt kann man vielleicht sagen, dass Kepel die These vertritt, dass Anschläge ihren Ursprung in radikalen islamischen Milieus haben, Roy dagegen spricht von einer Islamisierung der Radikalität statt von einer Radikalisierung des Islam. Das heißt, dass Attentäter den Islam erst spät entdecken und sich in einer kruden und einfältigen Form angeeignet haben. Welche Rolle spielt solch ein Diskurs oder gerade auch dieser Diskurs in Ihrer Forschung?
Srowig: Dieser Diskurs hat einen besonderen Stellenwert, wie Sie das schon richtig angeführt haben. In Frankreich wird darüber schon seit Jahren diskutiert, in Deutschland geht es vielmehr um die Frage, welche präventiven Praxisprojekte sollten jetzt gefördert werden. In Deutschland fragt man sich: Sind Moscheen oder islamische Akteure wirklich die richtigen Ansprechpartner, wenn es um Prävention von islamistischem Terrorismus geht, oder sollte man viel mehr in normale Sozialarbeit oder in die Schulen investieren? Von daher ist es ein sehr, sehr wichtiger Diskurs. Die Frage ist letztendlich: Welchen Faktor möchte man benennen, der ausschlaggebend ist für die Radikalisierung? Und ich finde, wenn man sich da auf einen konzentriert, so wie es dann die Kollegen in der wissenschaftlichen Debatte machen, wird es durchaus schwierig.
Jabs: Für Roy sind radikalisierte junge Menschen nicht religiös, sondern eher frustriert, weil sie geprägt sind von einer Jugendkultur, teilweise am Rand der Gesellschaft. Kepel dagegen hält den radikalen Islam, den Salafismus, als zentrale Ursache für eine terroristische Bedrohung. Was zeigt da Ihre Erfahrung bisher?

"Radikalisierungsprozesse sind immer sehr individuell"

Srowig: Unsere Erfahrung oder unsere Studien weisen darauf hin, dass es gerade in einem jüngeren Alter durchaus eher strukturelle Probleme sind oder auch persönliche Problemlagen, die einen in die Radikalität treiben. Wenn man gerade ältere Akteure in dem salafistischen Milieu anschaut, sagen wir, die über die 25, stark auf die 30 zugehen, dort kann man schon davon ausgehen, dass sie sehr theologisch gefestigt sind und ein gutes Islam-Verständnis haben. Von daher würde ich sagen, es gibt beide Fälle, es gibt eine Radikalisierung des Islam, es gibt sehr viele Akteure, die sich damit beschäftigen, islamische Suren und den Koran zu durchsuchen und Argumente für ihre menschenfeindliche Ideologie zu finden. Aber es gibt durchaus die Mehrheit der jungen Menschen, die gerade durch jugendkulturelle Attraktivitätsmomente in die Szene gezogen werden, bei denen geht es eher um psychologische, soziologische oder andere Motive.
Jabs: Sie haben sich auch Fallbeispiele angeguckt. Wenn Sie einmal in einfachen Worten beschreiben würden, wie funktioniert so ein Prozess der Radikalisierung? Oder wie kann er funktionieren?
Srowig: Das ist eine gute Frage. Es gibt natürlich nicht das Pauschalrezept, wo wir sagen, so funktioniert eine Radikalisierung oder das war der Auslöser. Radikalisierungsprozesse sind im Prinzip immer sehr, sehr individuell. Es geht wirklich um die persönlichen Problemlagen, es geht um das soziale Umfeld, es geht auch um soziale Stützsysteme, es geht um Sozialisationsinstanzen, die Schule, die Familie, Freunde und Peergroups, die alle einen Einfluss auf den Radikalisierungsprozess des Individuums haben. Nichtsdestotrotz kann man sagen, dass es wiederkehrende Merkmale gibt. Wir wissen durchaus, das ist auch in der Rechtsextremismusforschung bereits bekannt, dass gerade persönliche Krisen Auslöser sein können, um sich einem radikalen Milieu zuzuwenden. Sehr wichtig vor allen Dingen in der Jugendphase ist die Gleichaltrigengruppe. Also wir haben in unseren Untersuchungen gesehen, dass besonders in Gruppen von Gleichaltrigen sich sehr schnell radikale Einstellungen verfestigen können.

Interviews im Zentrum der Studie

Jabs: Und wie wollen Sie jetzt genau in dieser neuen Studie der Frage nachgehen, welche Rolle die Religion dabei spielt?
Srowig: Wir werden aus zwei verschiedenen Perspektiven herangehen. Wir arbeiten ja zusammen mit den Kollegen am Institut für islamische Theologie an der Uni Osnabrück. Sie werden das aus einer islamwissenschaftlichen Perspektive betrachten. Wir haben bereits Datenmaterial, ein WhatsApp-Protokoll, wo in einer Jugendgruppe Religion verhandelt wird oder durchaus auch religiöse Inhalte oder Einstellungen diskutiert werden und dann in der Gruppe für gut oder für schlecht befunden werden. Das werden die Kollegen sich halt einmal anschauen mit dem islamwissenschaftlichen Hintergrund, um zu sehen: Wie wird dort eigentlich Religion konstruiert, gibt es dafür Hand und Fuß, für die Argumente, die sie dort anbringen, oder sind das alles eher Geschichten aus dem Internet oder sind das Sachen, die eigentlich eher dem Hörensagen zugeordnet werden können?
Und wir werden uns ein bisschen mehr auf die empirische Basis berufen, das heißt, wir werden versuchen, mit jungen Menschen Interviews zu führen, vor allen Dingen Fokusgruppengespräche werden wir machen. Wir konzentrieren uns da vor allen Dingen auch auf Jugendliche, die im Zuge von Präventionsprojekten angesprochen werden, also "Demokratie leben"- oder Wegweiserprogramme, und versuchen dann herauszufinden in diesen Gesprächen, welche Relevanz hat eigentlich Religion für sie, um dann vielleicht noch einmal in einem intensiveren Gespräch zu schauen, ob es Jugendliche gibt, die vielleicht eine stärkere Identifizierung mit religiösen Inhalten haben oder auch weniger.
Jabs: Also, Gespräche, ein ganz wichtiger Faktor Ihrer Studie. Gehen Sie denn auch in Moscheen oder Moschee-Vereine, sprechen Sie da auch mit Bezugspersonen zum Beispiel?
Srowig: Wir würden durchaus mit Moschee-Vereinen zusammenarbeiten oder auch mit Imamen. Ob wir jetzt direkt in die Moscheen gehen, um Bezugspersonen zu finden, die vielleicht relevant für das radikale Milieu sind, da würde ich erst mal nicht von ausgehen.
Jabs: Wie schwierig ist es da überhaupt, Gespräche zu führen oder auch Gesprächspartner zu finden, für Sie als Wissenschaftler?
Srowig: Das hängt immer von dem persönlichen Interesse der Person ab. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass einige junge Menschen, die Erfahrung mit dem Islamismus gemacht haben, nach einer gewissen Zeit, nachdem, sage ich mal, ihre Höchstphase vorbei ist – im Rechtsextremismus würde man sie immer als Aussteiger bezeichnen –, durchaus ein großes Interesse haben, sich mitzuteilen oder auch mit Wissenschaft zu reden. Mit Akteuren, die jetzt wirklich tatsächlich aktiv sind, da ist der Zugang so gut wie unmöglich, würde ich sagen. Man kann immer mit dem Rand sprechen, da würde ich sagen, also mit dem sozialen Umfeld, mit Familie, mit Angehörigen, vielleicht auch mit Vereinen oder Moschee-Vereinen, das ist durchaus möglich, aber direkt mit den Akteuren aus dem salafistischen oder islamistischen Milieu, das ist doch sehr verschlossen.

Ergebnisse der Studie sollen Präventionsangebote verbessern

Jabs: Und haben Ihre Erfahrungen gezeigt, dass die Menschen auch freimütig über Gott, über ihren Glauben dann auch sprechen?
Srowig: Durchaus. Also gerade junge Menschen, die sich sehr intensiv mit der Thematik beschäftigt haben, möchten dieses Wissen natürlich auch teilen. Von daher habe ich die Erfahrung gemacht: Ja, natürlich.
Jabs: Wenn Sie jetzt einmal in die Zukunft blicken, das Forschungsprojekt ist erst mal für zwei Jahre angesetzt: Welche Erwartungen haben Sie daran, was erhoffen Sie sich?
Srowig: Was wir uns erhoffen, ist einfach, erst mal herauszufinden, welche Funktion besitzt Religion, wenn man sie sich in einer Jugendphase aneignet? Das bedeutet: Gibt es für die Religion auch irgendwie eine Funktion wie "ich möchte vielleicht erwachsen werden", oder man möchte eine Statuspassage in seinem Leben überwinden. Das wäre ein Beweggrund. Das andere ist, wir möchten natürlich für Praxis- und Präventionsprojekte oder auch für die Politik es handhabbarer machen: Wer sollte eigentlich Ziel von Präventions- und Interventionsprojekten werden? Heutzutage ist immer noch die Annahme, dass besonders muslimische Jugendliche gefährdet sind, und das möchten wir auch in unserer Studie überprüfen, ob das überhaupt so stimmt.
Jabs: Um den Bogen noch mal zu schließen: Gibt es denn da auch Erfahrungswerte oder die Möglichkeit, zum Beispiel auch mit Jugendlichen, mit jungen Christen zum Beispiel zu sprechen, wie sie ihre Erfahrung mit Religion machen, und das dann mit jungen Moslems zum Beispiel zu vergleichen?
Srowig: Das wäre durchaus ein interessanter Ansatzpunkt, würde ich dann wahrscheinlich für einen Folgeantrag oder ein Folgeprojekt in Betracht ziehen.
Jabs: Herr Srowig, vielen Dank für das Gespräch!
Srowig: Ja!
Jabs: Und viel Erfolg bei der Studie! Fabian Srowig vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld über das Forschungsprojekt "Religion als Faktor der Radikalisierung".
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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