Säkulare Juden

Ungläubig in Jerusalem

Blick auf den Jerusalemer Tempelberg mit Felsendom und Klagemauer
Der Felsendom auf dem Tempelberg ist das wohl bekannteste Wahrzeichen Jerusalems. © picture alliance / dpa/ Marius Becker
Von Igal Avidan · 12.08.2016
Yaakov Malkin ist der Präsident des Instituts für jüdisch-säkulare und humanistische Führung. Der 89-jährige israelische Philosoph schreibt Bücher über Atheismus und begeht die traditionellen Feiertage als Ausdruck menschlicher Werte. Deswegen erhält Malkin Morddrohungen.
Das massive Haus des israelischen Intellektuellen Yaakov Malkin in Jerusalem ist von mehreren Synagogen und jüdischen Religionsschulen umzingelt. Der bewusst säkular lebende Jude Malkin, Professor für Philosophie und Geschichte, teilt mit diesen religiösen Nachbarn eine Leidenschaft für die Bibel – obwohl er der geistige Anführer der säkular-humanistischen jüdischen Gemeinschaft in Israel ist.
"Judentum ist die Kultur des jüdischen Volkes. Diese Kultur ist einzigartig, weil sie immer sehr pluralistisch war, was das Glauben, die Lebensweisen und Rituale betrifft. Die Bibel beschreibt ein Judentum mit vielen Göttern, davon legen die Propheten Zeugnis. Überall im Land Israel fand man Skulpturen der kanaanitischen Götter Aschtoret und Baal, an die die Juden übernahmen. Zu einem Zeitpunkt machte sie das Königreich Israel sogar zu Staatsgöttern und vertrieb und verhaftete die Propheten des Gottes Israels JHWH. In Salomons Tempel in Jerusalem stand während zwei Drittel seiner Existenz – so die Bibel - eine Skulptur der kanaanitischen Göttin Astarte."

Ein faszinierendes Leben

Der 89-Jährige blickt auf ein faszinierendes, geistreiches Leben zurück. Aber die meisten Israelis hörten zum ersten Mal von Malkin, im Frühjahr als er Morddrohungen erhielt. Unbekannte klebten an seine Sprechanlage ein Messer mit dem eingravierten Hinweis auf drei biblische Psalmen. Auf dem Zaun schmierte man einen Davidstern neben dem biblischen Gebot, die Amalekiter auszulöschen. Der kanaanitische Stamm "Amalek" gilt in der Bibel als Feind des Volkes Israel.
Shahar Ilan, Vize-Direktor des Vereines für Religionsfreiheit "Hiddusch" gilt als Experte für religiöse Angelegenheiten in Israel.
"Die Gewalt gegen Professor Malkin kam überraschend. Man hätte erwartet, dass Morddrohungen gegen führende reformierte oder konservative Rabbiner gerichtet werden, die mit der orthodoxen Strömung in Israel konkurrieren. Es gibt orthodoxe und religiöse jüdische Extremisten, die viele Gewaltakte verüben. Auch wenn wir davon ausgehen, dass so ein Täter dahinter steht, ist es unklar, wieso er eine säkulare Aktivität als Bedrohung empfand, die wohl in einer anderen Sphäre kreist."
In den letzten Jahren veröffentlichte der emeritierte Professor Yaakov Malkin Bücher, in denen er die Ideen des griechischen Philosophen, des Gründers des Atheismus erläutert. Danach soll der Mensch sich als Zentrum einer gottlosen Welt betrachten und nach Freiheit, Gerechtigkeit, Genuss und Glück streben.
"Nur in den jüdischen Sprachen existiert das Wort 'Epikur' und bedeutet 'Ketzer'. In der hellenistischen Zeit folgten immer mehr Juden dem Epikurismus, wonach der Mensch Gott erfunden hat, daher verfolgte das jüdische Establishment die Anhänger Epikurs und bestrafte sie mit dem Tod."
2006 sorgte das israelische Institut für säkulares Judentum für Schlagzeilen, als er die ersten säkularen Rabbiner – Männer wie Frauen – in Jerusalem ordinieren wollte. Wie kann ein Rabbi überhaupt säkular sein?
"Was ist ein Rabbiner? Ein Mann, der von einem anderen Rabbiner dazu berechtigt wurde, Rabbiner zu werden. Das war lange bevor die Orthodoxen diesen Titel für sich beanspruchten. Ein Rabbiner hat die Aufgaben eines Lehrers, Wegweisers, Gemeindeleiters. Daher gibt es ganz verschiedene Rabbiner. Als 2006 das Institut die ersten sieben säkularen Rabbiner feierlich einführen wollte, wandte sich Oberrabbiner Jona Metzger an den Oberstaatsanwalt mit der Forderung, die Zeremonie und die Aktivitäten der 'Schwindler' zu verhindern. Doch man stellte fest, dass das israelische Gesetz gar nicht definiert, wer ein Rabbiner ist."

Die erste säkulare Synagoge

Die säkularen Rabbiner in Israel wurden von gleichgesinnten amerikanischen Kollegen beeinflusst. Der erste säkulare Rabbiner war Sherwin Wine, der als reformierter Rabbi eines Tages die Existenz Gottes bezweifelte. 1963 gründete er in Detroit die erste säkulare Synagoge.
Die Israelin Sivan Maas besuchte zum Fastentag Yom Kippur 1993 diesen Tempel. Daraufhin gründete sie 1995 in Jerusalem das Institut für jüdisch-säkulare und humanistische Führung "Tmura" (Hebräisch für "Wende"). 2003 wurde Maas in Detroit als erste säkulare Rabbi – nicht Rabbinerin – ordiniert.
"Als ich 'Tmura' startete, glaubte ich nicht wirklich daran, dass Säkulare überhaupt Gemeinden gründen wollen. Denn ich dachte, dass jeder lieber seinen Individualismus ausleben würde. Inzwischen stelle ich fest, dass immer mehr Menschen in Gemeinden leben wollen. Zum Glück gehört das Fach 'Gemeindeführung' zu unserem Curriculum und dank dieser Fähigkeiten gründeten unsere Absolventen seit drei Jahren mehrere Gemeinden."
Säkular-humanistische Juden begehen die traditionellen Feiertage als Ausdruck menschlicher Werte. Der Schabbat steht für Familienzusammenführung und Erholung, Rosch Haschana für Erneuerung und Entscheidungen über die Zukunft. Wie sieht der jüdische Kalender des Yaakov Malkin aus?
"Wir haben immer zu Pessach einen Seder nach unserer säkularen Tradition veranstaltet. Darin korrigieren wir die verzerrte religiöse Tradition, denn in der religiösen Haggada wird Moses gar nicht erwähnt, einer der wichtigen Anführer bei der Befreiung des jüdischen Volkes aus der Sklaverei in Ägypten. Die Haggada ist auch teilweise sehr langweilig und nicht in hebräischer Sprache. Wir schreiben jedes Jahr eine neue Haggada, in der wir biblische Texte mit hebräischen Gedichten und Literatur ergänzen."

Unerwartetes Lob von einer "Ketzerin"

Die Beschneidung befürwortet der überzeugte säkulare Yaakov Malkin, weil dies gesellschaftlich verankert sei, aber nur, wenn sie durch einen Arzt durchgeführt wird.
Obwohl seine säkular-humanistische Bewegung noch wenig Beachtung und kaum öffentliche Förderung erhält, berichtet Malkin mit Freude über Solidaritätsbesuche einiger benachbarter Rabbiner. Besonders stolz ist er über eine völlig unerwartete Unterstützung seines säkularen Lebenswerkes:
"Uns rief anonym eine Frau an, die sich als orthodox bezeichnete. Sie erzählte mir, dass sie von den Morddrohungen gegen mich gehört hatte und daraufhin las sie eine Kritik meines letzten Buches über Epikur. Sie sagte, dass ihr die Lektüre gefiel. Was genau? Die Frau stelle viele Axiome der Orthodoxie infrage, zum Beispiel, dass man jemand die eigene Meinung aufzwingen muss. Bisher hielt sie ihre Ansichten für Ketzerei, aber durch meine Schriften verstand sie, dass dies nicht der Fall sei. Dafür sagte sie mir 'danke' und legte einfach auf."
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