Ethik- und Religionsunterricht

Wettkampf der Werte

Unterricht an der Heinz-Brandt-Sekundarschule in Berlin-Weißensee.
Sonderfall Berlin: Hier gibt es vier Jahre verpflichtenden Ethikunterricht. © picture alliance / dpa / Stephanie Pilick
Von Matthias Bertsch · 11.09.2016
In Berlin ist der Religionsunterricht ein freiwilliges Zusatzfach - anders als in vielen Bundesländern. Dafür gibt es für die Klassen 7 bis 10 verpflichtenden Ethik-Unterricht, vor genau zehn Jahren wurde er eingeführt. Vermittelt er Werte und Zusammenhalt besser?
"Heute kümmern wir uns weiter um das Glück, die Methode haben wir schon öfters gemacht: Think-Pair-Share."
Dienstagmorgen, 8 Uhr, in der Sophie-Scholl-Schule in Berlin Schöneberg. Auf dem Stundenplan der achten Klasse steht das Fach Ethik.
"Erst denkt ihr über Fragen zum Glück selber nach, jeder für sich, dann tauscht ihr euch mit dem Nachbarn aus, und in der dritten Phase setzt ihr euch zu viert zusammen, da geht es darum, die Ergebnisse auszutauschen und eigene Eindrücke auf dem Arbeitsblatt noch zu ergänzen."
Ethik-Lehrerin Margret Iversen teilt Arbeitsbögen aus, auf denen die Schüler eintragen sollen, was sie glücklich macht. Dann sollen sie in Kleingruppen eine Rangliste erstellen und diese vorstellen.
Iversen: "Was steht bei euch ganz oben und warum? Lilith!"
Lilith: "Ganz oben steht bei uns Familie und Freunde, weil man dann einfach, keine Ahnung, man fühlt sich dann sicher und man hat jemand, dem man vertrauen kann."

Glück, Identität und Toleranz auf dem Lehrplan

Auf dem Ethik-Lehrplan stehen Themen wie Glück, Identität und Toleranz, aber bei wichtigen Ereignissen, die die Schüler beschäftigen, ist auch dafür Platz im Unterricht, zum Beispiel nach den Anschlägen in Paris im November letzten Jahres.
Schülerin: "Ich erinnere mich, wir haben diskutiert, ob wir finden, dass Deutschland Luftangriffe auf Syrien und auf IS machen sollte, und dann haben wir uns auch gestritten, dass das alles noch schlimmer machen würde oder, nein, das bringt voll was, also am Ende waren wir immer noch zwei verschiedene Meinungen, aber wir meinten, okay, dann denkst du halt so und ich so, ist halt so."
Schülerin: "Ist halt auch oft so am Ende, dass die zwei Gruppen dann die gegenseitige Meinung akzeptieren."
Unterschiedliche Meinungen und Wertvorstellungen kennenzulernen und zu akzeptieren ist ein Hauptziel des Ethik-Unterrichts. Das hat mit der Genese des Pflicht-Faches zu tun: Im Februar 2005 wurde die junge Berliner Kurdin Hatun Sürücü von einem ihrer Brüder erschossen, weil die Familie ihren westlichen Lebensstil ablehnte. "Selbst schuld, denn sie hat ja wie eine Schlampe gelebt", lauteten die Kommentare einiger Schüler, erinnert sich Michael Bongardt, bis vor kurzem Direktor des Instituts für Vergleichende Ethik an der FU Berlin:
"Das hat dann die Politik ziemlich aufgescheucht, die SPD hat wenige Monate später beschlossen, dass nun endlich ein Wertefach eingeführt werden muss, und hat das dann auch durch eine entsprechende Gesetzesinitiative sehr schnell durchgesetzt."
Im März 2006 beschloss das Abgeordnetenhaus die Einführung von Ethik als Pflichtfach für alle Schüler der Klassen 7 bis 10 – ohne die Möglichkeit, es abzuwählen. Die Kirchen protestierten, sie forderten, den in Berlin rein freiwilligen Religionsunterricht als Wahlpflichtfach dem Ethik-Unterricht gleichzustellen, Wertevermittlung ohne Gott bleibe oberflächlich. Es kam zu einem Volksentscheid, den die Befürworter von "Pro Reli" knapp verloren. Doch Berlin sei ein Einzelfall, betonte damals der Berliner Theologieprofessor Rolf Schieder, der sich für ein Wahlpflichtfach Religion einsetzte:
"Kein Bundesland hat auch nur von fern ein Interesse daran, das Berliner Chaos zu übernehmen, also das wird es nie und nimmer geben. Im Gegenteil: Weshalb es überhaupt diese Bewegung in Berlin gibt, hat doch damit zu tun, dass es viele Migranten gibt, nicht aus Ost-Anatolien, sondern vom Rhein und aus Bayern und aus Baden-Württemberg, die sagen: Weshalb haben unsere Kinder nicht die gleichen Rechte wie die Kinder in Stuttgart und in Düsseldorf und in München?"
Schieder spielte damit auf Artikel 7 des Grundgesetzes an, nach dem Religion an öffentlichen Schulen ein ordentliches Lehrfach ist. Nur in Berlin, Bremen und Brandenburg gilt eine Ausnahmeregelung, die auf die Nachkriegszeit zurückgeht. In den anderen Bundesländern dagegen ist der Religionsunterricht bis heute das Normale, der Ethik-Unterricht bloß ein Ersatzfach für die, die nicht in der Kirche sind. So heißt es beispielsweise in den Vorschriften des Kultusministeriums in Baden-Württemberg: "Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, haben den Ethik-Unterricht zu besuchen." Dieser Logik folgend wird zur Zeit der islamische Religionsunterricht in verschiedenen Bundesländern eingeführt.

Berliner Modell als Sonderfall

Das Berliner Modell, in dem verschiedene Religionsgemeinschaften, aber auch der Humanistische Verband Unterricht in Eigenregie anbieten, ist ein Sonderfall - und soll es auch bleiben, macht die Beauftragte der SPD-Bundestagsfraktion für Religionsgemeinschaften, Kerstin Griese, deutlich:
"Das ist eine Berliner Diskussion, bei mir zu Hause in Nordrhein-Westfalen findet die nicht statt, sondern da gibt es einfach Religionsunterricht in den Schulen, und das finde ich auch gut so. Die Frage, um die es ja geht, ist, dass die Trennung von Staat und Kirche in unserem Land sehr gut geregelt ist, und dass ein strikter Laizismus wie zum Beispiel in Frankreich, wo Religion aus dem öffentlichen Leben komplett verdrängt wird, eher der Nährboden für Extremismus ist, als das säkular gestaltete Verhältnis von Kirchen, Staat und Religionsgemeinschaften in Deutschland."
Auch Dieter Altmannsperger, der in der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg für den Religionsunterricht zuständig ist, hält den staatlich eingebundenen Religionsunterricht für einen wirksamen Schutz gegen religiösen Fanatismus:
"Auch der Religionsunterricht muss natürlich zeigen, ob er tatsächlich das erreicht, was bezweckt ist. Ich denke allerdings, ein Maß an religiöser Bildung, jetzt auch innerhalb der Flüchtlingsdebatte, wo viele fragen, welche Menschen kommen denn da und wie kann ich unterscheiden zwischen den Fundamentalisten, den Salafisten und den ganz normalen Muslimen. Andersherum: Wie kann ich die denn in eine Mehrheitsgesellschaft, die christlich orientiert ist, integrieren?"
Die Integration von Flüchtlingen und Migranten ist auch für Michael Bongardt eine der zentralen Herausforderungen der Zeit. Doch die Aufnahmegesellschaft sei längst nicht mehr christlich:
"Angesichts einer wachsenden Zahl von Menschen, die sich nicht mehr religiös verstehen, für die Religionen nicht einmal mehr eine Folie sind, von der sie sich absetzen, sie sind einfach unwichtig für sie, hat sich die christliche Grundlage unserer Gesellschaft, die auch bei der Verfassung des Grundgesetzes irgendwie völlig selbstverständlich war, nicht verflüchtigt, aber sie entspricht der Gegenwart nicht mehr. Also müssen wir einen Weg suchen, in einer pluralen Gesellschaft mit sehr unterschiedlichen Wertvorstellungen Gemeinsamkeit zu entwickeln und genau dazu soll das Fach Ethik dienen."
Dass die Gesellschaft pluraler geworden ist, darin sind sich alle einig. Die Diskussionen darüber, wer auf muslimischer Seite der Ansprechpartner für den Religionsunterricht sein soll, zeigen, welche Herausforderungen das mit sich bringt. Über die Frage, ob – gerade angesichts der großen Zahl von Zuwanderern, für die Religion ein selbstverständlicher Teil ihrer Identität ist – der Religions- oder der Ethik-Unterricht die besseren Konzepte für ein gelingendes Zusammenleben hat, wird allerdings erstaunlich wenig diskutiert - zumindest öffentlich.

Ideologischer Kampf um ein Wertefach

Die Ethik-Verbände und Fachphilosophen plädieren für einen säkular orientierten Ethik-Unterricht, die Religionsgemeinschaften für einen bekenntnisorientierten Religionsunterricht. Der ideologische Graben ist tief, doch er versperrt den Blick auf eine andere Frage: Kann denn ein Wertefach halten, was sich Politik und Gesellschaft von ihm versprechen? Dieter Altmannsperger:
"Warum gibt es jetzt nicht auch mal eine Ethikstudie, wo genau dieses nachgefragt wird: Ist denn das tatsächlich erreicht worden, also ist es jetzt nur eine Toleranz, die in Gedanken, "ja, können doch alle machen, was sie wollen!", oder ist es tatsächlich eine Handlungskompetenz geworden, "ich trete auch dafür ein, dass alle das machen und sagen können, was sie wollen und verteidige auch diese Freiheit der Gesellschaft!", das ist eine ganz spannende Geschichte."
Um diesen nachhaltigen Effekt bei Schülern zu erreichen, sind vor allem die Lehrer gefragt, egal ob Ethik oder Religion. Davon ist auch Ralph Döring-Schleusener überzeugt. Der evangelische Theologe und Religionslehrer kooperiert im Berliner Sophie-Charlotte-Gymnasium mit dem Ethikunterricht, das heißt, er gestaltet den Unterricht mit. Anders als die Ethiklehrer muss er keinen weltanschaulich neutralen Standpunkt einnehmen, sondern kann und soll eine religiöse Sicht vertreten. Einen kritischen Blick auf Religionen will er trotzdem haben:
"Wir erziehen unsere Jugendlichen zu kritischem Denken allem gegenüber, und ob man nun verantwortlich mit Religion oder mit Religionslosigkeit umgeht, ist letztlich sekundär. Entscheidend ist, dass diese Phänomene in der Welt sind und wir sie so gut wie möglich verstehen sollten."

Weltreligionen als selbstverständliches Thema

Für Döring-Schleusener ist es selbstverständlich, im Ethik-Unterricht über alle Weltreligionen zu sprechen. Dazu lädt er regelmäßig Juden, Muslime und Buddhisten in den Unterricht ein. Die Schüler schätzen diese Haltung, zum Beispiel die 16-jährige Hanna Chang, die als Grundschülerin auf einer evangelischen Schule war:
"Wir hatten nie Judentum oder Buddhismus, wir haben immer nur über evangelische Religion gesprochen, und ich glaube, gerade deswegen, weil wir jetzt hier nur Ethikunterricht haben, wo Religion gar nicht mehr so ein großer Schwerpunkt ist, dass man erst mal lernen muss, dass die eigene Meinung zwar für einen selber richtig ist, aber die andere für den anderen auch richtig ist, dass man halt auch Verständnis für die andere Meinung aufbringt, obwohl sie für einen selbst gar nicht richtig ist, so."
Ein Ethikunterricht, der religiöse Überzeugungen und Positionen zu Wort kommen lässt, ohne sie aus einer konfessionslosen Überheblichkeit als veraltet zu qualifizieren, so könnte das Fach ein Vorbild für die gesamte Bundesrepublik sein. In Berlin allerdings wird über die Hälfte aller Ethikstunden von Lehrern unterrichtet, die dafür keine entsprechende Ausbildung haben. Viele Schulleiter, so die Erfahrung der Ethiklehrerin Margret Iversen, halten das auch nicht für nötig. Sie denken nach wie vor: Ethik kann doch jeder!
"Das zehrt am Ruf des Faches und an der Qualität, wenn das ein Lehrer einfach mal nebenbei schnell machen muss, bisschen über Freundschaft reden, dann kommt wieder der Ruf des Quassel-Faches, was es aber nicht ist. Also wir brauchen mehr ausgebildete Ethiklehrer an den Schulen, unbedingt."