Strenger Lockdown

Mehr Zwang zugunsten des Gemeinwohls

07:45 Minuten
Passanten mit Schutzmasken beim Einkauf im Zentrum der Stadt Essen, links ein Polizeifahrzeug.
Die Menschen müssen erkennen, dass das, was von ihnen gefordert wird, vernünftig ist, sagt Hans Michael Heinig. Dazu müssten Regeln aber auch verständlich und nachvollziehbar sein. © imago/Rupert Oberhäuser
Hans Michael Heinig im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 18.01.2021
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Deutschland steht vor der Verschärfung der Anti-Corona-Maßnahmen. Sowohl Appelle an die Eigenverantwortung als auch staatliche Regeln setzten eine innere Einsicht der Bürger voraus, sagt der Jurist Hans Michael Heinig. Ohne sie kommen wir nicht weit.
Liane von Billerbeck: Es ist eine Debatte, die, seit die Pandemie ausgebrochen ist, immer wieder geführt wird: Brauchen wir wirklich Regeln und Gesetze samt Sanktionsandrohungen, um uns vernünftig zu verhalten?
Ist der Eingriff in die Grundrechte in der Krise alternativlos, um dieses Wort mal wieder zu benutzen, oder können wir doch besser auf mehr Verantwortung, auf die Verantwortung jedes Einzelnen vertrauen?
Der Chef des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, hat beklagt, dass es viel zu viele Ausnahmen von den Regeln gebe und die Menschen alles ausreizen, was möglich ist, statt sich so weit wie möglich einzuschränken.
Mehr Eigenverantwortung oder doch strengere Regeln? Diese Frage will ich Hans Michael Heinig stellen. Er hat den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Kirchenrecht und Staatskirchenrecht, an der Universität in Göttingen, inne.
Morgen wird es wohl weitere Einschränkungen in der Corona-Krise geben, und klar ist, wenn es strenge Regeln gibt, dann ist es natürlich einfacher, sich "richtig" zu verhalten. Aber wollen wir diese Eingriffe in unsere Grundrechte wirklich?
Hans Michael Heinig im Porträt
Hans Michael Heinig hat den Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Georg-August-Universität Göttingen inne.© Daniel Moeller
Michael Heinig: Ganz ohne Eingriffe kommen wir wohl nicht aus, wenn wir das Gemeinwohl fördern wollen, aber es gibt einfach keine natürliche Ordnung zwischen Fremdbestimmung und Selbstbestimmung, das ist von der Situation abhängig, wie viel Zwang wir brauchen. Da gibt es eine Menge an Faktoren, die eine Rolle spielen. Offensichtlich muss man, um jetzt größeres Übel zu vermeiden, noch mal ein bisschen an der Sanktionsschraube drehen und das ein bisschen schärfer stellen.
von Billerbeck: Also die Leute zu ihrem Glück zwingen?
Michael Heinig: Ja, wobei man ja beim Appell an die Selbstverantwortung wie bei der staatlichen Regulierung innere Einsicht braucht. Das ist, glaube ich, die Pointe, auf die wir hier abstellen müssen. Wir kommen nicht aus ohne diese innere Einsicht. Auch wenn der Staat reguliert, braucht er ja Befolgungsbereitschaft, und natürlich kann man das mit Zwangsmitteln ein bisschen durchsetzen, aber nicht flächendeckend.
Deshalb ist vor allen Dingen entscheidend, dass die Menschen erkennen, dass das, was von ihnen gefordert ist, vernünftig ist, und dazu bedarf es einer gewissen Kohärenz und Stringenz in der Regelung. Vielleicht hat es daran zuletzt auch in größerem Maße gefehlt, wenn ich etwa an die Debatten um den Bewegungsradius von 15 Kilometern denke. Manche Arten politischer Kompromissfindung – gibst du mir ein bisschen, geb ich dir ein bisschen – sind hier vielleicht doch abträglich, weil die Kohärenz darunter leidet.

Vergleichsweise moderate Eingriffe in die Freiheit

von Billerbeck: Manche sagen ja auch, hier handelt ein Staat, der seinen Bürgern nicht vertraut. Welches Menschenbild liegt denn diesem staatlichen Handeln in der Pandemie zugrunde?
Michael Heinig: Im internationalen Vergleich sind unsere Freiheitseingriffe ja doch moderat, das darf man dabei nicht aus dem Blick verlieren. Der Mensch ist eben auch immer ein Mängelwesen, das wissen wir, und das ist sozusagen auch die Anthropologie unserer Verfassung. Man kann auch eine freiheitliche politische Ordnung im Wissen um die Mängel des Menschen denken.
Die Verhaltensökonomie etwa lehrt uns, dass wir ein schnelles und ein langsames Denken haben, unterschiedliche Rationalitäten in uns wirken: die schnelle mit Panikattacken, mit sofortiger Angstreaktion auf eine Bedrohung. Das Langsame ist das rationale, abwägende Verhalten. Wir sind eben nicht immer nur in diesem Rationalitätsmodus unterwegs, und damit darf auch eine freiheitliche Ordnung rechnen und kann deshalb gelegentlich auch in dem Bereich, wo es wirklich erforderlich ist, dann zu Zwangsmaßnahmen greifen.

"Freerider" unterminieren die Bereitschaft zur Vernunft

von Billerbeck: Wir haben es bei der Notbetreuung in den Kitas erlebt: Da gab es den Ruf nach klaren Regeln seitens der Betroffenen. Bedeutet das, die Menschen wollen gar nicht mündige Bürger sein, sie wollen vom Staat gegängelt werden und wollen gesagt bekommen, du darfst dein Kind hinbringen und du nicht?
Michael Heinig: Manchmal bedarf es ja auch einfach nur der Sozialsynchronisierung, dass alle zur gleichen Zeit das Richtige machen. So negativ wäre dann die Anthropologie, die ich hier zugrunde legen würde, gar nicht. Manchmal braucht es gar nicht Regelungen, weil wir gerne Befehle entgegennehmen, sondern nur aus einer eigenen Rationalität heraus. Eine gewisse harte Isolierung, einen richtig harten Lockdown bekommt man eben, selbst wenn alle ganz einsichtig wären, nur hin, wenn es eben auch staatliche Koordination gibt.
Dann gibt es dieses andere Phänomen, dass ganz viele im Grundsatz verantwortlich handeln wollen, sich aber daran stören, dass es einige Freerider gibt, also die, die Situation ausnutzen. Das unterminiert dann langfristig doch die Bereitschaft, sich selber vernünftig zu verhalten: Wenn der andere sich unvernünftig verhält, dann will ich das auch ab und zu mal und über die Stränge schlagen.
Deshalb braucht es dann für die wenigen Unvernünftigen und zur Stabilisierung des vernünftigen Verhaltens der Mehrheit staatliche Regelungen. Es sind beides Faktoren, wo es gar nicht darum geht, dass wir einen autoritären Charakter haben, sondern eher um sekundäre Aspekte unseres menschlichen Daseins.
von Billerbeck: Sie hatten ja schon die Stringenz angesprochen, die solche Entscheidungen auch immer haben müssen. Wie sinnvoll sind denn nun Verordnungen und Gesetze, die nicht umfangreich kontrolliert und notfalls auch sanktioniert werden?
Michael Heinig: Auch das kommt, glaube ich, sehr auf die Umstände an. Ich meine, wir haben auch ein Strafgesetzbuch, das nicht permanent nachgehalten wird. Der Rechtsbruch gehört zur Rechtsordnung, das muss man sich erst mal klarmachen. Und zur freiheitlichen Ordnung gehört auch die Möglichkeit, dass man sich illegal, nicht rechtskonform verhält. Trotzdem bedarf es natürlich der Sanktionierung, in dem Moment jedenfalls, wo es zu massiven Verletzungen kommt.
Oft ist das Recht aber auch ohne unmittelbare Durchsetzung hilfreich, weil es das eigene Verhalten koordiniert – dann weiß man, was mindestens jetzt von einem erwartet wird. Diese soziale Koordinierungsfunktion funktioniert in großen Teilen eben auch, ohne dass ein Polizist hinter einem steht.

Zwang als Ausdruck von kollektiver Selbstbestimmung

von Billerbeck: Mehr Eigenverantwortung oder doch strengere Regeln, wenn ich Sie richtig verstanden habe.
Michael Heinig: Das ist kompliziert, wie so vieles, weil der Mensch kompliziert ist. Er braucht gleichzeitig Selbstverantwortung, aber auch ein bisschen Koordinierung und Anleitung. Dieser Zwang ist ja Ausdruck von kollektiver Selbstbestimmung in unserer Ordnung, das dürfen wir nicht vergessen. Es geht ja nicht darum, dass irgendeine finstere dritte Macht uns zwingt, sondern die, die diese Regeln erlassen, sind uns selbst wieder verantwortlich. Wir können sie abwählen, anders als in China, und das ist ein Riesenvorteil.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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