Streitkultur

Parlamente sollten "Empörungsorte der Bürger" sein

Karl-Rudolf Korte im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 28.01.2016
Nicht nur die Straße, auch der Bundestag sollte ein Ort für die Entrüstung der Bürger sein, findet der Politologe Karl-Rudolf Korte. Streit in der Großen Koalition gehöre zur Demokratie.
Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte wertet den Streit über die Flüchtlingspolitik innerhalb der Regierungskoalition positiv. Im Deutschlandradio Kultur sagte Korte am Donnerstag: "Es ist normal angesichts einer epochalen Herausforderung, dass sehr unterschiedliche Interessen existieren." In Zeiten der Großen Koalition seien kleine Parteien im Bundestag "geradezu marginalisiert", so Korte. "Insofern ist es doch ein Segen, dass wir innerhalb der großen Parteien sehr unterschiedliche Richtungen auch haben, vor allem innerhalb der CDU und CSU, die das zum Tragen bringen."

CSU: Katastrophenschutz 1A

"Ein Dissens, über den nicht nur laut gestritten wird, sondern über den am Ende auch mit unterschiedlichen Mehrheiten abgestimmt wird, hat eine viel höhere Legitimationskraft als ein Konsens, über den nie abgestimmt wurde", sagte Korte weiter. Verständnis zeigte der Politologe für die Situation der CSU: "Die CSU ist erst mal viel betroffener als alle anderen Parteien - viel stärker, weil sie in der Regierungsverantwortung ist, auf der Balkanroute im Süden für Deutschland die Nothilfe zu organisieren und zu managen, was sie offenbar auf hohem Niveau professionell machen. Das ist Katastrophenschutz 1A, könnte man sagen."

Auch populistische Parteien sollten ins Parlament

Zum erwarteten Einzug der AfD in mehrere Landtage sagte Korte, es sei nicht schlecht, auch populistische Parteien in den Parlamenten zu haben. Viele europäische Länder hätten das: "Es kann dann der Streit ausgetragen werden, wie es Kennzeichen der Demokratie ist und am Ende mit Mehrheit abgestimmt werden. Dann lässt sich auch ein Argument entlarven, ob es tragfähig ist oder nicht tragfähig ist. Empörungsorte der Bürger müssen auch Parlamente sein - und nicht nur die Straße."

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Man ist nicht gerade allzu zimperlich in der Großen Koalition. Die CSU – nein, Entschuldigung, die bayrische Staatsregierung – schreibt Briefe, Adressat die Bundesregierung, in der sitzt bekanntermaßen die CSU, da sitzt auch die SPD. Und deren Fraktionschef hat recht deutlich gesagt, was er davon hält:
Thomas Oppermann: Der Brief von Horst Seehofer mit Klageandrohung ist die Ankündigung des Koalitionsbruchs.
Frenzel: Thomas Oppermann, SPD-Fraktionschef. Verbales Aufrüsten vor dem heutigen Tage, heute treffen sich die drei Parteivorsitzenden Angela Merkel, Horst Seehofer, Sigmar Gabriel für die SPD, ein Treffen, das man vor diesem Hintergrund getrost ein Krisentreffen nennen darf. Beobachter all dessen ist auch Karl-Rudolf Korte, Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen und Leiter der Forschungsgruppe Regieren. Herr Korte, guten Morgen!
Karl-Rudolf Korte: Guten Morgen!
Frenzel: Dieser Grad des Parteiengezänks, den wir da erleben, sind wir da noch im Bereich des Normalen oder ist das übersteigert aus Ihrer Sicht?
Korte: Das ist normal angesichts einer epochalen Herausforderung, dass sehr unterschiedliche Interessen existieren. Und vor allen Dingen, es gibt nicht die eine Lösung, den einen großen Masterplan, über den man auch sich sehr schnell einig wäre. Insofern halte ich das für absolut erwartbar. Denn die Parteien sind ein Abbild der Gesellschaft mit sehr unterschiedlichen Interessen.
Good cop, bad cop für die Union
Frenzel: Sie sind ein Abbild der Gesellschaft, aber manchmal hat man ja doch den Eindruck, es ist alles eine wunderbare große Inszenierung. Nehmen wir den heutigen Tage, jetzt hören wir schon über die Nachrichten, da werden schon die Kompromisslinien ausgelotet. Wenn es nicht schon zwei-, dreimal passiert wäre im dieser Flüchtlingspolitik, dass die CSU erst groß aufbrausend ist, dass die SPD entsprechend zurückschlägt und dann setzt man sich zusammen und findet sich ... Ist das nicht ein Problem, dass dieser Streit häufig inszeniert wirkt?
Korte: Er wirkt so, das stimmt, weil die einen damit die anderen vor sich hertreiben. Aber das ist ja auch ein wichtiges Element auch gerade in einer großen Koalition, in der wir ja die kleinen Parteien durch die Größe der Opposition geradezu marginalisiert haben. Insofern ist es wichtig, dass auch in einer großen Koalition der Streit ausgetragen wird, damit auch Opposition in der großen Koalition sich überhaupt artikulieren kann. Wenn wir denken, wie große Koalitionen normalerweise arbeiten, hat die Opposition ja kaum die Chance, in irgendeiner Weise ein Thema nach vorne zu bringen. Und im Moment ist es ja so, dass die Opposition des Deutschen Bundestags auch in weiten Teilen für die Flüchtlingspolitik ist, die die Kanzlerin vorgibt. Insofern ist es doch ein Segen, dass wir innerhalb der großen Parteien sehr unterschiedliche Richtungen auch haben, vor allen Dingen innerhalb der CDU und CSU, die das zum Tragen bringen.
Frenzel: Das heißt, die CSU ist quasi die Opposition innerhalb der Regierung?
Korte: Ja, good cop, bad cop für die Union. Es ist nicht schlecht, die Wählerinnen und Wähler schätzen durchaus diese unterschiedlichen Interessenlagen, erhoffen sich, dass am Ende in einer Demokratie mit Mehrheit aber entschieden wird. Das war schon einmal so Ende des Jahres, der Karlsruher Parteitag hat zumindest für die CDU eine sehr klare, befriedigende Lösung gehabt, und jetzt kommt der nächste Schritt, an dem wieder eine befriedigende Lösung vielleicht heute Abend herauskommt, in der sich viele verschiedene Positionen zusammenführen lassen. Und Mehrheitsabstimmungen und Mehrheitskonstellationen charakterisieren unsere Demokratie.
Frenzel: Nun ist ja die Situation so im deutschen Wahlsystem und im deutschen Parteiensystem, dass das, was die CSU anbietet, auch nur in Bayern gewählt werden kann. Die anderen müssen CDU wählen und da kriegen sie ja nicht CSU. Müssten die dann AfD wählen?
Korte: Nein, aber die anderen reagieren ja darauf, man möchte ja die Regierung halten. Man möchte mehrheitsfähig bleiben auch bei kommenden Abstimmungen. Insofern, wenn es in der CDU der Eindruck ist, dass viele CDU-Wähler auch CSU-Positionen vertreten, dann muss die CDU sich auch bewegen oder die CSU versuchen zu überzeugen. Und genau das ist der Wettstreit, der gut ist. Und ein Dissens, über den nicht nur laut gestritten wird, sondern über den am Ende auch mit unterschiedlichen Mehrheiten abgestimmt wird, hat eine viel höhere Legitimationskraft als ein Konsens, über den nie abgestimmt wurde.
"Das ist die öffentliche Inszenierung"
Frenzel: Aber haben Sie denn den Eindruck, dass da wirklich ein Wettstreit der Ideen stattfindet?
Korte: Nein, das habe ich nicht, insofern trifft die Inszenierung zu, aber das ist die öffentliche Inszenierung. Intern gibt es mehr als nur den Hinweis, Obergrenzen festzuschreiben oder Grenzen zuzumachen. Ein komplexes Problem in einer globalisierten Nation lässt sich doch niemals mit einer Antwort lösen. Irgendeine Grenze zu schließen, wenn Menschen als Völkerwanderung unterwegs sind, in Bewegung sind, und wenn man sich selbst als Demokratie definiert und nicht Stacheldraht aufbauen möchte, also ... Die einfachen Antworten liefern Populisten ohnehin, aber auch mittlerweile Parteien der Mitte, die zumindest öffentlich so tun, als könnte mit einer Aktion am Ende diese epochale Herausforderung bewältigt werden.
Frenzel: Aber das heißt doch auch, dass sie eigentlich die Wähler nicht ernst nehmen, denn die sind ja klüger als das, was sie da präsentiert bekommen. Fördert das den Politikverdruss?
Korte: Die Öffentlichkeiten sind unterschiedlich. Es gibt die Wähler, die durchaus für das Konzept dieser argumentativen Politik zugänglich sind, es gibt das von der Politik auch bezeichnete "Pack", die nicht mehr wählen, die praktisch ihre Wut nur noch ausschreien, und dazwischen viele andere Gruppierungen. Jede unterschiedliche Teilöffentlichkeit muss anders angesprochen werden. Und Sie als Medien sind auch wichtiger Teil, um das auch transparent zu machen, welche unterschiedlichen Positionen bei dem Streit durchaus existieren. Manchmal sind es auch Nuancen, die durchaus aber im Hinblick auf europäische Solidarität eine große Rolle spielen.
Frenzel: Aber wenn ich Ihren Gedanken von vorher noch mal aufgreife, dann bedeutet das: CSU und noch stärker AfD, die sind also eher fürs grobe Geschäft da, für die Wähler, die es eher platt mögen?
Korte: Nein, kann man so nicht sagen. Die CSU ist erst mal viel betroffener als alle anderen Parteien, viel stärker, weil sie in der Regierungsverantwortung ist, auf der Balkan-Route im Süden für Deutschland die Nothilfe zu organisieren und zu managen. Was sie offensichtlich auf hohem Niveau professionell machen. Das ist Katastrophenschutz 1a, könnte man sagen. Daraus wächst überhaupt nicht Integration, das wäre der nächste Modus, den man einlegen müsste, aber dass Niedersachsen oder Schleswig-Holstein anders davon betroffen ist und anders dazu redet, ist glaube ich auch etwas Naheliegendes. Dass es also die CSU vorranging um Lösungen drängt, kann man glaube ich unter diesen Rahmenbedingungen eher verstehen. Die AfD ist eine sehr stark gewordene ostdeutsche Regionalpartei, die klar als Frustventil, auch als Protestpartei agiert, und zwar grundsätzlich aus der Haltung: Wir gegen oben und gegen alles Etablierte, gegen alles, was bisher auch an Plänen vorgestellt worden ist.
Frenzel: Die AfD wird ja ziemlich sicher auch in zwei westdeutsche Parlamente einziehen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, beide wählen im März. Wird das die Debatte besser machen, weil es sie breiter macht auch in den Parlamenten, oder eher erschweren?
Korte: Nein, das ist unter dem Verständnis, so wie ich eben das Konzept von Demokratie entwickelt habe, mit Mehrheit auch abzustimmen, auch ein deliberatives Konzept, also mit unterschiedlichen Argumenten Interessen weiter voranzutreiben, auch Konfliktlösungen zu betreiben, nicht schlecht, auch als Abbild der Gesellschaft auch populistische Parteien in den Parlamenten zu haben. Viele europäische Länder haben das, insofern kann dann der Streit ausgetragen werden, wie es Kennzeichen der Demokratie ist, und am Ende mit Mehrheit abgestimmt werden. Dann lässt sich auch ein Argument entlarven, ob es tragfähig oder nicht tragfähig ist. Also, Empörungsorte der Bürger müssen auch Parlamente sein und nicht nur die Straße.
Frenzel: Das sagt der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte heute am Tag, an dem sich die Regierung trifft, um sich wieder zusammenzukitten. Ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch!
Korte: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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