Streit um Inzest-Karikatur bei "Le Monde"

Cancel Culture à la française?

05:12 Minuten
Auf dem Gebäude der französischen Tageszeitung "Le Monde" in Paris prangt der Name der Zeitung
Der Zeichner Xavier Gorce hat bei "Le Monde" gekündigt: Sich nach einer Bashing-Kampagne zu entschuldigen, sei ein schwerer Fehler. © picture alliance / EPA / Ian Langsdon
Von Christiane Kaess · 27.01.2021
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Die Pinguin-Karikaturen von Xavier Gorce in der Tageszeitung "Le Monde" sind beliebt. Doch nach einer Zeichnung mit Bezug auf einen Missbrauchsskandal schlugen die Wellen der Empörung hoch. "Le Monde" entschuldigte sich, Gorce kündigte.
Die Pinguine von Xavier Gorce kommen schlicht daher. Mit ein paar schwarzen Strichen auf weißem Grund fängt der Karikaturist gekonnt Absurditäten der menschlichen Gesellschaft ein und schiebt sie den Vögeln in den Schnabel. Mittlerweile sind seine Kreaturen aus dem Eis so erfolgreich, dass es sie auch als Animation gibt.
"Was sind für Dich die schönsten Momente, die wir zusammen verbracht haben?", fragt ein männlicher Pinguin im Liegestuhl auf einer Eisscholle seine weibliche Begleiterin. "Muss ich aus den Momenten wählen, die wir zusammen verbracht haben?", fragt diese zurück. Ein Witz, der niemandem wehtut.

Anspielung auf einen Missbrauchsskandal

Ganz anders als die jüngste Zeichnung von Xavier Gorce, die einschlug wie eine Bombe: Ein Pinguin-Kind fragt einen erwachsenen Vogel: "Wenn ich vom adoptierten Halbbruder der Lebenspartnerin meines Transgender-Vaters, der jetzt meine Mutter ist, sexuell missbraucht werde, ist das dann Inzest?".
Das ging einigen Lesern zu weit. Denn seit Wochen erschüttert ein Missbrauchsskandal Frankreich. Der prominente Jurist Olivier Duhamel soll seinen Stiefsohn als Kind jahrelang missbraucht haben. Ans Licht brachte das die Zwillingsschwester des heute erwachsenen Mannes, Camille Kouchner. Sie ist selbst bekannte Juristin.
Der Vater des Geschwisterpaares ist der ehemalige französische Außenminister, Bernard Kouchner, bekannt auch als Gründer der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen". Die Affäre zieht im intellektuellen Umfeld der Betroffenen weite Kreise. Wer wusste von was? Diese Frage steht ständig im Raum.
Chefredaktion mit Rückzieher
Die Karikatur von Xavier Gorce löste wütende und schockierte Reaktionen in den sozialen Netzwerken aus. Die Chefredakteurin von "Le Monde", Caroline Monnot, reagierte prompt: "Diese Zeichnung hätte nicht veröffentlicht werden dürfen", teilte sie mit, man könne sie durchaus als "Relativierung" des Inzests verstehen.
Die Wortwahl der Karikatur sei gegenüber den Opfern deplatziert. Dafür entschuldigte sie sich. Xavier Gorce seinerseits fackelte ebenfalls nicht lange und nahm nach 19 Jahren bei Le Monde seinen Hut:
"Die Zeichnung wurde veröffentlicht, vom Aufmacher akzeptiert und anerkannt. Diese Entschuldigung verstehe ich nicht. Ich finde, die Zeitung macht da einen schweren Fehler: sich zu entschuldigen nach einer Bashing-Kampagne in den sozialen Netzwerken."

"Eine Zeichnung ist in erster Linie Humor"

Dass Betroffene sich verletzt fühlen können, kontert der Zeichner mit einer Gegenfrage. "Ab wann will man einschätzen, ob sich jemand zu Recht oder zu Unrecht verletzt fühlt? Will man sich da jedes Mal entschuldigen? Worüber sollen wir denn dann noch reden und zeichnen? Eine Zeichnung ist in erster Linie Humor. Nicht, um jemanden auszulachen. Es kann in manchen Fällen Spott sein, aber vor allem, um die Fehler in der Gesellschaft anzuprangern."
Er wollte mit seiner Zeichnung auch die neuen Familien-Konstellationen ironisieren, die nicht mehr dem traditionellen Modell entsprechen, so verteidigt sich Xavier Gorce.
Der Streit um die Karikaturen in Frankreich, er nimmt kein Ende. Zu weit auseinanderliegen diejenigen, die einen sensibleren Umgang damit fordern, und diejenigen, die auf die Meinungsfreiheit auch bei Bildern pochen.

Grenzen der Karikatur

Seit Jahren hält der Konflikt um die Mohammed-Karikaturen das Land in Atem. Vorläufiger Höhepunkt des Schreckens in der Auseinandersetzung war die Enthauptung des Lehrers Samuel Paty. Er hatte die Karikaturen im Unterricht gezeigt.
Dabei denken die Zeichner durchaus differenziert über die Grenzen ihrer Werke. Xavier Gorce diskutierte mit seinem Kollegen und Freund, dem Schweizer Karikaturisten Patrick Chappate, über die damals hoch umstrittene Netanjahu-Karikatur in der New York Times – so erzählt es Gorce.
Im April 2019 hatte eine Ausgabe des Blattes eine Zeichnung des israelischen Premierministers als Hund mit einem Halsband, an dem der Davidstern hing, veröffentlicht. An der Leine führte ihn der damalige US-Präsident Trump mit einer Kippa auf dem Kopf.

New York Times ohne Karikaturen

Nach dem öffentlichen Aufschrei über die Zeichnung, die als antisemitisch galt, stellte die New York Times Karikaturen generell ein. Obwohl Patrick Chapatte die Zeitung dafür scharf kritisierte, erklärte er damals auch:
"Die Porträtierung als Tier führt oft zu Problemen. Die Tiere als Menschen darzustellen ist weniger problematisch als umgekehrt. Ich verstehe nicht, dass der Zeichner Donald Trump eine Kippa aufgesetzt hat. Das sind Details, die oft Einfallstore sind, für eine Interpretation, dass es sich um eine antisemitische Zeichnung handelt."

"Nicht vor Kritik einknicken"

Xavier Gorce wünscht sich nach seiner Erfahrung, jemand aus der Redaktion von Le Monde hätte vor der öffentlichen Entschuldigung mit ihm gesprochen und ihn nach seiner Erklärung gefragt. Das sei nicht geschehen. Und er wünscht sich, dass die Presse nicht vor Kritik einknickt:
"Ich glaube, die Presse muss mutig sein, wenn man die Meinungsfreiheit aufrechterhalten und lustig sein will. Denn es geht hier um Humor, um aus dem Pathos des Zeitgeschehens rauszukommen."
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