Donnerstag, 18. April 2024

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Hans Magnus Enzensberger
"Dieses Land ist bewohnbarer geworden"

Mit "Tumult" hat Hans Magnus Enzensberger ein Erinnerungsbuch über die Jahre 1967/68 verfasst. Die gesellschaftlichen Umwälzungen habe er als überfällig und befreiend empfunden, sagte Enzensberger im DLF. Mit der berühmten 'Kommune eins' wollte der Schriftsteller aber nichts zu tun haben.

Hans Magnus Enzensberger im Gespräch mit Denis Scheck | 25.11.2014
    Hans Magnus Enzensberger, Portrait, lächelnd von der Seite
    Hans Magnus Enzensberger (dpa/picture alliance/Andreas Gebert)
    Denis Scheck: "Bücher und Warzen haben eine tiefe Gemeinsamkeit: Beide werden besprochen." Eine Erkenntnis des großen deutschen Dichters Hans Magnus Enzensberger, für viele immer die Stimme der Vernunft in der Kakophonie der Intellektuellen, Ideenschmied, Urkraft und Universalgenie der deutschen Literatur. Nun hat Enzensberger ein Erinnerungsbuch an die 60er- und 70er-Jahre geschrieben, mit dem Titel "Tumult". Darüber habe ich mit Enzensberger im Monat seines 85. Geburtstags an seinem Wohnort München gesprochen und ihn als Erstes gefragt, warum er denn diese Zeit, also das Ende der 60er-Jahre, als Tumult empfunden hat.
    Hans Magnus Enzensberger: Nicht nur ich war durcheinander. Alles war eigentlich ein bisschen durcheinander. Und es ist ja auch zu so einer Art von Legende geworden, diese sogenannten 68er. Ich bin ja gar kein 68er, ich bin, wenn überhaupt, ein 67er.
    Scheck: Na ja, dass '68 in Wahrheit eigentlich '67 stattfand, das hat sich herumgesprochen. Sie schreiben, es habe geknirscht im Gebälk der Republik. Der wilhelminische Obrigkeitsstaat und das Erbe der Nazi-Diktatur - es sei klar gewesen, dass sich da was verändert. Und diese Veränderung wollten Sie mitgestalten. Wie macht man denn das als Dichter und als Intellektueller?
    Enzensberger: Ich weiß nicht, ob ich das mitgestaltet habe. Ich bin da rein, in diesen Strudel, mitgerissen worden sozusagen. Ich war ja eigentlich schon zu alt für so was. Ich war ja, glaube ich, schon 38. Und das waren alles diese Studenten, und ich war doch kein Student. Ich hatte schon alles Mögliche gemacht.
    "Ich bin als Mitglied nicht besonders geeignet"
    Scheck: Sie gaben damals eine Zeitung heraus, das "Kursbuch". Das wurde zum Organ im Grunde der Bewegung.
    Enzensberger: Ach ja, das war eine Privatveranstaltung, weil ich war ja nicht in einer von diesen unzähligen Parteien. Da war ich ja gar nicht Mitglied. Ich bin überhaupt als Mitglied nicht besonders geeignet. Das ist halt so, immer so gewesen. Und dann war man in dieser Lage, man konnte – also ich wollte natürlich das mitkriegen. Man kann nicht einfach weggehen, das geht auch nicht. Also, ich fand es schon interessant. Es war ja überfällig. Ich meine, warum haben ein paar Tausend Hanseln, diese Studenten oder irgendwelche Leute, irgendwelche Hippies, was weiß ich – wie können ein paar Tausend Leute ein ganzes Land durcheinanderbringen? Das war ja eben, weil das überfällig war.
    Scheck: Sie besaßen damals ein Haus in Berlin-Friedenau. Sie sind dann zurückgezogen nach Berlin aus Norwegen. Sie waren mit einer Norwegerin verheiratet damals. Ihr Bruder war einer der Mitbegründer der Kommune eins, das war ein jüngerer Bruder. Wie haben Sie das damals erlebt?
    Enzensberger: Ja, mein Bruder Ulrich, so ist das halt. Wir waren vier Brüder zu Hause, und wie das so ist, man streitet sich, man verträgt sich irgendwie wieder. Ich habe allerdings – das war die Politik und all diese Geschichten – die K1, diese Kommune, die wollte sich bei mir einnisten, die habe ich sofort rausgeschmissen. Denn ich wollte ja meine Ruhe haben.
    Scheck: Die stört beim Dichten, nicht?
    Enzensberger: Die stört beim Arbeiten. Die machen Krach und so – das sollen sie woanders machen!
    Scheck: Sehr vernünftig, ja. Nun haben Sie Ihr Buch "den Verschwundenen" gewidmet. Ich nehme an, gemeint sind damit diejenigen, die heute auf dem Friedhof liegen, die in den Irrenhäusern sitzen, die im Gefängnis vielleicht gelandet sind.
    Enzensberger: Ja ...
    Scheck: Solche revolutionäre Bewegungen haben ja auch immer ihre Kosten an Menschenleben.
    Enzensberger: Ja, ja. Bei Marx heißt es immer, die "faux frais", wie die Urkosten, das sind die Unkosten sozusagen. Und so was hat es ja bei jeder größeren gesellschaftlichen Bewegung gegeben. Das sind eben die im Dunkeln, die man dann nicht mehr sieht. Und damit meine ich keineswegs nur die sogenannten Genossen, also die da dabei waren. Ich hab mich mit den Gefangenen beschäftigt gelegentlich, die da mal im Knast gelandet sind, aber auch zum Beispiel dieser Mann, der den Rudi Dutschke erschossen hat, so ein verhetzter Jüngling, der also von der Springer-Presse so aufgehetzt wurde, dass er mit einer Knarre gekommen ist und den Dutschke umbringen wollte. Und der ist ja auch ein armer Teufel, also der tut mir gewissermaßen genauso leid wie die, die auf der sogenannten richtigen Seite waren. Denn der war auch in diesem Strudel drin und war unfähig, da wieder rauszukommen. Ich finde, die sollte man nicht vergessen, diese Leute, die dabei untergegangen sind. Drogen, was weiß ich, alle möglichen – Indienfahrer. Alle möglichen komischen ...
    "Bei so einem Tumult gibt es auch Leute, die draufzahlen"
    Scheck: In den Psychiatrien, schreiben Sie, zeige sich die verborgene Wahrheit der Gesellschaft.
    Enzensberger: Na ja, eben. So ist das. Bei so einem Tumult gibt es auch Leute, die draufzahlen. Man muss von Glück sagen, wenn man da so irgendwie halbwegs heil wieder herausgekommen ist aus so einer Turbine, aus so einem Mixer.
    Scheck: Jetzt ist es ja nicht nur eine politisch bewegte Zeit, sondern in Ihrem Privatleben ereignet sich etwas, was Sie den "russischen Roman" nennen. Sie verknallen sich in der Sowjetunion in eine Russin, Sie lassen sich scheiden, Sie heiraten diese Russin, und Sie entfalten eine gigantische Reiseaktivität. Also: Natürlich Sowjetunion, USA, Kuba, Australien, überall sind Sie. In Asien sind Sie unterwegs. Vor was laufen Sie denn da davon?
    Enzensberger: Ja, es war auch ein bisschen der Versuch, Abstand zu gewinnen. Weil in so einem Durcheinander darf man nicht immer nur nahe dran sein. Das ist ungesund. Man muss auch, damit man überhaupt eine Perspektive hat von außen – man muss eine Innenperspektive und eine Außenperspektive haben. Ja, und was diese privaten Geschichten betrifft, es war mir äußerst unwohl dabei. Ich meine, am liebsten hätte ich das überhaupt nicht erwähnt. Nur, es hat sich eben gezeigt, dass ohne diese private Seite wäre das nicht verständlich, in was man da alles reingeraten ist. Da ist die russische Geschichte, die kubanische Geschichte, das sind lauter solche Sachen. Und die haben vielleicht auch eine politische Dimension, aber die haben vor allem auch eine private Dimension. Und das sind ja Kräfte, die man nicht beherrscht.
    Scheck: Sie schreiben mal so schön, Sie versuchten in dieser Zeit, Ihre Probleme mithilfe der Geografie zu lösen.
    Enzensberger: Na ja. Das waren auch Fluchtversuche. Man muss reinkommen, aber wie kommt man da wieder raus?
    Scheck: Ihre neue russische Frau hielt es in Berlin überhaupt nicht aus, und bei Ihnen schon mal gar nicht, sondern Sie suchten ja dann gemeinsam neues Territorium.
    Enzensberger: Das ist wie bei diesen russischen Romanen, da kann man gar nichts dagegen machen. Wenn Sie da reingeraten, ich meine, da brauchen Sie nur irgendeinen Tschechow zu lesen, das ist ja immer dasselbe dort. Das ist ja die – es gibt die ganzen Klischees von der russischen Seele und solche Sachen, und da ist nicht damit zu spaßen.
    Scheck: Sie werfen sich selber vor, dass Sie die Gefährdetheit Ihrer Geliebten damals nicht begriffen haben.
    Enzensberger: Gut. Das nahm ein böses Ende, wie das halt bei manchen solcher Geschichten ...
    Scheck: Elf Jahre nach Ihrer Scheidung bringt sich die Frau um.
    Enzensberger: Ja, aber mit Schuldgefühlen kann man damit auch nichts ausrichten. Es ist nicht möglich. Denn ich meine, wenn man die Geschichte dieser Familie, eine sowjetische Familie, eine russische Familie mit einer jüdischen Mutter, mit den Kriegen, mit dem Durcheinander, auch mit dem privaten Tumult von diesen Leuten dort – das war ja nicht nur politisch, das war eben auch so verwickelt ineinander. Sie können diesen Knoten gar nicht wieder richtig auseinanderziehen und auflösen. Das geht gar nicht. Das ist alles in sich verwickelt.
    "Man bereut ja nichts"
    Scheck: Ein Wirrwarr, wie Sie eben beschreiben. Fühlten Sie sich eigentlich damals überfordert?
    Enzensberger: Ja, das ist schwer zu sagen. Eigentlich – man bereut ja nichts. Also irgendwie war das schon, das war schon diesen Aufwand wert, von mir aus gesehen. Ich fand das schon alles sehr spannend, und ich habe mich eigentlich auch – das ist ja das Schreckliche daran, man kann nicht unterscheiden die tragischen Anteile von so etwas und die komischen Anteile. Das heißt, man hat sich gleichzeitig herumgequält und amüsiert. Ich weiß auch nicht, wie man so was unterscheiden kann.
    Scheck: Sie hatten Vergnügen an der Erschütterung der Ordnung, schreiben Sie, der Bundesrepublik.
    Enzensberger: Ja, natürlich, das war ja herrlich. Das war ja absolut überfällig, das ging nicht anders. Was dabei herausgekommen ist, ist sehr schwer zu sagen. Ich will auch gar keine Zusammenfassung riskieren.
    Scheck: Na ja, aber Sie geben ja eine Bilanz. Sie sagen, dass sich ja Deutschland durch '68 gewandelt hat. Niemand macht mehr heute einen Diener. Niemand knallt mehr die Hacken zusammen, Busfahrer warten, bis die Passagiere tatsächlich eingestiegen sind. Wir sind ein zivilisierteres Land geworden.
    Enzensberger: Und Pazifisten – dieses militaristische Land wurde plötzlich zu einem pazifistischen, es ist ganz sonderbar, was da passierte. Aber ich meine immer, als Minimalsumme kann man vielleicht sagen, dieses Land ist tatsächlich bewohnbarer geworden.
    Scheck: Aber das war doch nicht Ihre Forderung 1967.
    Enzensberger: Nein, überhaupt nicht, im Gegenteil.
    Scheck: Sondern damals kursierten ja die Ideen der Marxisten, Leninisten, die verrücktesten, die absurdesten politischen Forderungen, die man sich vorstellen kann.
    Enzensberger: Na ja, das waren natürlich alles Provokationen. Das war ja auch eine Provokation, weil das Verhassteste war eben irgendwas vage Kommunistisches. Niemand wusste genau, was das eigentlich ist. Und deswegen diese vielen Parteien, ob das jetzt die Chinesen sind oder ...
    Scheck: Maoisten, albanische KP-Ideologen ...
    Enzensberger: Das war ja eigentlich wurscht, ja. Das war ja alles nur Seminar.
    Eine "inselartige Behaglichkeit" in Deutschland
    Scheck: Hätten Sie eigentlich heute, mit 85, noch Freude an einer Erschütterung der Ordnung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2014?
    Enzensberger: Das kommt drauf an, welche Formen das annimmt. Das kann auch sehr unangenehm werden.
    Scheck: Eben.
    Enzensberger: Ja, sicher. Man fragt sich zum Beispiel, was passiert mit so einem Land wie diesem, ist ja eine inselartige Behaglichkeit, die ja immer noch da ist. Was passiert eigentlich, wenn – neulich haben wir überlegt, was machen wir, wenn wir nur noch die Hälfte haben an Reichtum, an Einkommen. Wenn es plötzlich, ich weiß nicht, einen Währungsschnitt – es gibt ja solche Sachen. Das hängt mit meinem Geburtsdatum zusammen, weil ich hab das ja alles schon mal erlebt.
    Scheck: 1945.
    Enzensberger: 1945, und vorher auch schon, ich meine, geboren '29, da gibt es "Ups and Downs". Man kann doch nicht sagen, das ist so ein ordentlicher Lebenslauf. War das halt nicht, konnte gar nicht sein.
    Scheck: Sie und mich unterscheidet etwas ganz zentral, und das ist unser Verhältnis zur Autorität. Sie, Jahrgang 1929, vermuten in Lehrern, in Vätern, sehr zu Recht natürlich auch, immer die Nazi-Mitläufer. Ich hab mit Autoritäten wie Hildegard Hamm-Brücher, wie Hans Magnus Enzensberger, wie Willy Brandt weniger Probleme.
    Enzensberger: Zu den Autoritäten, erstens gehöre ich nicht dazu ...
    Scheck: Für mich schon!
    Enzensberger: ... und zweitens ist es einfach Übung, Training. Jeder von uns, jeder auf seine Weise, Sie auch, tragen ja mit sich irgendein Gepäck, ein historisches Gepäck. Und in meinem Fall war das halt ziemlich heavy. Das war allerhand auf dem Rücken, da diese ganzen Schweinereien, diese ganzen Verbrechen, die Bomben. Ich will das gar nicht aufzählen. Ich habe ja gar nicht so viel gelitten, ich fühle mich ja überhaupt nicht als Opfer. Ich habe ja Glück gehabt, ich bin ja rausgekommen.
    Scheck: Aber Sie hatten immer ein Misstrauen gegenüber Institutionen. Das haben Sie nicht ausgehalten. Sie liefen sogar vor dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in den 50er-Jahren weg.
    Enzensberger: Das sind alles auch Defizite. Wissen Sie, ein ordentlicher Mensch, der kann in einem Büro arbeiten, der kann von neun bis fünf Uhr nachmittags pünktlich erscheinen. Das sind alles auch Fähigkeiten, muss man auch mal sagen. Und man kann das jetzt so oder so herum sehen: Das ist ja ganz toll, der macht, was er will, der hat eine gewisse Zeitsouveränität. Kriegt zwar keine Rente und so weiter. Aber man kann das Ganze auch als ein Mangel sehen, verstehen Sie? Denn die meisten Leute haben da gar kein so großes Problem damit. "Historical luck", sagt ein Amerikaner, Sie haben historisch Glück oder Pech gehabt. Sie sind da und da geboren, an dem und dem Tag, und daraus ergibt sich eine Menge von guten und schlechten Sachen.
    Scheck: Sie haben ja, das darf man festhalten, unglaubliches Glück in Ihrem Leben gehabt. Schon, dass Sie den Zweiten Weltkrieg überlebt haben, die Bombardements überlebt haben. Sie kamen sogar aus dieser '67er-, '68er-Geschichte gut raus. Irgendwann klingelt mal die RAF bei Ihnen, die sich gerade gründet.
    Enzensberger: Oh ja, gut.
    Scheck: Da hätte man sich aber auch die Finger verbrennen können.
    Enzensberger: Ja, nein – ganz kostenlos geht es ja nicht ab, natürlich. Aber ich muss auch sagen, ich weiß auch nicht, ich bin ja kein Astrologe, aber man kann auch – die Römer sprechen von der Fortuna, die Griechen von der Tyche und so weiter, und so weiter.
    Scheck: Darauf will ich hinaus.
    Enzensberger und die höheren Mächte
    Enzensberger: Es gibt ja solche Götter.
    Scheck: Hat Hans Magnus Enzensberger sein Glück sich gemacht?
    Enzensberger: Keine Ahnung. Das sind wahrscheinlich höhere Mächte.
    Scheck: Sie glauben doch nicht im Ernst an höhere Mächte?
    Enzensberger: Na ja. Das weiß man nie genau. Wissen Sie, sich einzubilden, dass die Menschen das einzige intelligente Wesen in diesem Universum sind, das scheint mir auch ein bisschen übertrieben. Das ist auch eine Selbstüberschätzung.
    Scheck: Auf die Idee, dass das die Menschen sind, auf die bin ich nun wirklich nicht gekommen!
    Enzensberger: Na also. Und wer denn sonst? Wer denn sonst? Wie man das nennt, ist doch wurst. Also, höhere Instanzen.
    Scheck: Aber wenn ich in die Augen meines Hundes schaue, weiß ich, dass es intelligentes Leben auf diesem Planeten gibt.
    Enzensberger: Bitte. Haben Sie schon eines, ja. Und für den Hund sind Sie dann die höheren Mächte.
    Scheck: Nur, wenn ich zum Kühlschrank gehe. Nur ganz kurze Zeit, glaube ich. Aber im Ernst: Sie lehnen ja nun etwas ab, nämlich fixe Ideen. Mit Ideologien, mit Bekenntnissen haben Sie sich Ihr Leben lang schwergetan. Sie ziehen Argumente vor, sagen Sie.
    Enzensberger: Es ist immer dasselbe. Da kann man jetzt auch sagen, dem fehlt es eben an der nötigen Glaubensstärke. So kann man es auch ausdrücken.
    Scheck: Ihr Kollege Peter Rühmkorff hat Sie mal ein "Luftwesen" genannt, Martin Walser einen "Windhund".
    Enzensberger: Nein, nein, das stimmt ja gar nicht. Ich bin ja ein arbeitsamer Mensch.
    Scheck: Fleißig waren Sie, dass muss man immer sagen. Und sind Sie noch.
    Enzensberger: Na ja, man hat auch so eine selbsterzeugte Form von Disziplin. Die muss man schon auch haben. Also nur als Hallodri geht es auch nicht.
    "Mich kann man ja gar nicht pensionieren"
    Scheck: Na, das bestimmt. Aber wie sieht die bei Ihnen heute aus? Sie arbeiten ja wahnsinnig viel?
    Enzensberger: Ja, wieso denn? Mich kann man ja gar nicht pensionieren. Das ist ja auch ein großer Vorteil. Wenn Sie in einer Institution sitzen, dann werden Sie mit 65 rausgeschmissen. Ab, Ende! Rente! Sie haben einen Schrebergarten oder Sie dürfen Ski fahren, irgendwas... so Urlaub machen, das ist ja die Hölle, das kommt überhaupt nicht in Frage.
    Scheck: Viele Menschen nehmen dann so zwei Stecken in die Hand und werden zum sogenannten Stöckelwild, bevölkern da die Wälder Deutschlands.
    Enzensberger: Ja, gut. Oder Sie gehen auf die Seychellen. Ich meine, irgendwas gibt es schon, Optionen gibt es genug. Bitte, solange die noch ein bisschen Geld haben, die Leute, ist das alles nicht so schlimm. Und man kann auch verstehen, wenn jemand 40 Jahre in so einer Institution zugebracht hat, natürlich will der auch irgendwie raus. Dem steht das ja bis hier, als Sachbearbeiter in dieser Behörde oder in dieser Versicherung oder was weiß ich – oder in einer Fabrik. In einer Fabrik, wenn Sie da 40 Jahre zugebracht haben in einer Fabrik, dann wollen Sie natürlich raus.
    Scheck: Ist der deutsche Literaturbetrieb nicht in gewisser Weise auch so eine Fabrik?
    Enzensberger: Ja, eine kleine. Es ist eine kleine Firma. Im Großen und Ganzen ist das ja keine ... natürlich glaubt jede Branche, auch die unsrige, wenn ich so sagen – diese Kulturindustrie, die glaubt natürlich, sie wäre entscheidend wichtig, das ist ja klar. Aber das tut auch jemand, der Sägen herstellt. Ein Sägenhersteller, der sagt natürlich genauso, ich bin Weltmarktführer oder so.
    Scheck: Wenn ich das schon höre, Weltmarktführer! Nun schreiben Sie in "Tumult", die Erfahrung von 1968 sei unter dem "Misthaufen der Medien" begraben. Dann versuchen wir doch mal, etwas aus diesem Misthaufen an Erfahrungen zu bergen. Was war die Grunderfahrung von '68 für Sie?
    Enzensberger: Jetzt kommt gleich ein Fazit – das kann ich nicht. Warum beschäftigt man sich mit diesen ganzen Papiersachen von damals, die aus irgendeinem Keller heraus dieses Zeug holen? Ja nicht, um ein Fazit zu machen und eine Lehre. In einer Fabel gibt es dann immer eine Moral, da gibt es: "Merke:" – und dann kommt ein Spruch. Aber diesen Spruch, wenn ich den wüsste, hätte ich ja das ganze Buch nicht schreiben können.
    "Es gibt keine hundertprozentigen Anarchisten"
    Scheck: Ihrem großen Vorbild, Denis Diderot, dessen Roman "Jacques, der Fatalist" Sie Jahr um Jahr wieder lesen, dem wird ein Satz zugeschrieben, der sagte mal "Der Mensch wird erst frei sein, wenn der letzte König an den Eingeweiden des letzten Priesters aufgeknüpft wird."
    Enzensberger: Ja, ja.
    Scheck: Haben Sie auch so eine Anleitung zum Freisein?
    Enzensberger: Das ist ein berüchtigtes Zitat. In Wirklichkeit war der gar nicht so. Der war ja kein Robespierre oder so, der war ja ein ganz ziviler Mensch eigentlich, sehr mögelig, wie man bei uns zu Hause sagt.
    Scheck: Ein Sympath.
    Enzensberger: Ein sympathischer Mensch war der. Der war gar nicht so. Den immer an diesem Zitat ...
    Scheck: Das ist auch eine falsche Zuschreibung, wahrscheinlich.
    Enzensberger: Der hatte seine Wutanfälle. Die hatte er natürlich auch, so wie wir alle haben. Manchmal rasten wir auch ein bisschen aus. Ich habe auch nie ganz verleugnen können eine gewisse – für die alten Anarchisten – das ist sehr sympathisch, so was. Ich will natürlich nur sagen, es gibt keinen hundertprozentigen Anarchisten. Es gibt immer eine Beimengung. Die waren zum Beispiel ziemliche Machos. Die Frauen sollten bitte kochen bei den Anarchisten. Also die waren auch nicht hundertprozentige Anarchisten. So was gibt es gar nicht. Es gibt keine hundertprozentigen Menschen. Es gibt keine hundertprozentigen Optimisten, Pessimisten, Marxisten – gibt es alles nicht, da ist immer was anderes dabei. Und das ist das Interessante.
    Hans Magnus Enzensberger: "Tumult", Suhrkamp, 287 Seiten, 21,95 Euro.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.