Streit um Flüchtlingspolitik

Europa in der Sackgasse

Ein Grenzzaun zwischen Ungarn und Serbien
Ein Grenzzaun zwischen Ungarn und Serbien © imago stock&people
Von Thomas Otto  · 09.09.2017
Ungarns Regierungschef Viktor Orban lässt nicht locker. Auch nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes will Orban das geltende Recht nicht akzeptieren und keine Flüchtlinge aufnehmen. Ein Affront gegen die Grundwerte Europas, meint Thomas Otto.
Eine wirklich große Überraschung war es nicht, dass die Richter in Luxemburg die Flüchtlingsverteilung aus Griechenland und Italien innerhalb der EU – kurz "Relocation" – bestätigt haben. Zu klar bereits die Analyse des Generalanwaltes, zu dünn die Argumentationsgrundlage der Kläger: Es habe Verfahrensfehler gegeben, außerdem sei die Flüchtlingsverteilung nicht zielführend, weil damit Italien und Griechenland nicht entlastet würden. Das liegt aber vor allem daran, dass sich die EU-Staaten – allen voran die Kläger Ungarn, Slowakei und am Ende auch Polen – nicht beteiligen. Mit der gleichen Begründung könnte ein EU-Staat jegliche EU-Gesetzgebung ignorieren und argumentieren: Die Gesetze sind hinfällig weil wirkungslos, denn sie werden nicht befolgt.

Ausgang der EuGH-Klage bereits eingepreist

Womöglich war es aber dem ungarischen Premier Victor Orban und seinem slowakischen Kollegen Robert Fico selbst klar, dass ihre EuGH-Klage erfolglos sein würde. Ganz bestimmt hatten sie diesen Ausgang bereits eingepreist – passt er doch wunderbar ins Bild einer bevormundenden EU, in der einige wenige große Länder im Westen über Wohl und Wehe des eigenen Volkes entscheiden.
Während Robert Fico noch davon sprach, das Urteil des höchsten EU-Gerichts zu akzeptieren – auch wenn er damit nicht glücklich sein dürfte – geht Ungarn erneut auf Konfrontationskurs. Außenminister Peter Szijjarto spricht von einem politischen Urteil, das das europäische Recht und die europäischen Werte vergewaltige. Ungarn werde trotz des Urteils keine Flüchtlinge aufnehmen. Die wahre Schlacht beginne erst, so der Außenminister.
Damit beweist die Regierung Orban endgültig, dass ihr Gewaltenteilung und EU-Verträge egal sind und es allein um den nationalen politischen Erfolg geht. Und dass es höchste Zeit ist, diese Regierung in ihre europarechtlichen Schranken zu verweisen. Es geht um die Grundwerte der EU und die Geltung der Europäischen Verträge.

Viel zu lange mit faulen Kompromissen abspeisen lassen

Viel zu lang hat sich die EU-Kommission in Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn mit faulen Kompromissen abspeisen lassen. Zum Beispiel bei der umstrittenen Mediengesetzgebung, die in die Unabhängigkeit der ungarischen Medien eingreift. Nach kleineren Änderungen beendete die Kommission 2011 das Verfahren gegen Ungarn.
In der Flüchtlingsfrage muss die Kommission jetzt konsequent bleiben und das Verfahren schnell dem EuGH vorlegen – der kann dann Geldstrafen verhängen – für jeden Tag, an dem Ungarn seine Pflichten missachtet. Vielleicht versteht Orban diese Sprache?
Dass Brüssel schon viel zu lang gewartet hat, beweist der Fall Polen. Das Rechtsstaatlichkeitsverfahren aufgrund der Justizreform, das für Polen zum Entzug seines Stimmrechts führen könnte, ist schon jetzt rein symbolisch. Denn dafür ist im Rat Einstimmigkeit nötig und Ungarn hat bereits angekündigt, Polen zur Seite zu stehen. Umgekehrt würde auch Polen Schützenhilfe für Ungarn leisten. Ob beiden Staaten zugleich das Stimmrecht entzogen werden könnte, darüber streiten Juristen gerade.
Mit einem Enfant terrible kommt die EU mit den ihr zur Verfügung stehenden Werkzeugen noch klar. Bei zweien wird es schon sehr schwierig. Und dann läuft ja auch noch gegen Tschechien ein Verfahren, das sich ebenso weigert, Flüchtlinge aufzunehmen.

Brüssel müsse beweisen, die EU ist eine streitbare Demokratie

Aber nicht nur die EU-Kommission und die Mitgliedsstaaten sind gefragt – auch die europäischen Parteienfamilien. Gianni Pittella, Fraktionschef der Sozialdemokraten im EU-Parlament, muss sich seinen Parteifreund Robert Fico vorknöpfen, sollte die Slowakei weiterhin EU-Recht ignorieren. Und Manfred Weber, Chef der Fraktion der konservativen Volksparteien, sollte ernsthaft überlegen, ob Orbans Fidesz weiterhin seiner Fraktion angehören sollte. Man könne ja mit Orban vernünftig verhandeln, am Ende sei man sich immer einig geworden, so die übliche Argumentation der Gegner einer härteren Gangart gegen Ungarn. In Wirklichkeit hat Orban gelernt, wie er neben der Kommission auch Manfred Weber am Nasenring durch die europäische Manege führen kann.
Die Kommission, die europäischen Staaten und die Abgeordneten in Brüssel müssen beweisen, dass die EU eine streitbare, wehrhafte Demokratie ist, die in der Lage ist, ihre Grundwerte zu verteidigen. Ganz besonders gegen die Feinde dieser Werte in den eigenen Reihen.
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