Streit um Diskurshoheit

Seid gnädig mit den Linksliberalen!

03:52 Minuten
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"Die Linksliberalen sind eine herrschende Klasse im kulturellen Kapitalismus geworden", sagt der Journalist Stefan Reinecke. © Deutschlandradio
Ein Standpunkt von Stefan Reinecke · 10.09.2020
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Ja, sie haben diskursive Macht, und ihre angeblich so hohe Moral entspringt zum Teil Eigennutz: Dennoch solle man den Linksliberalen gegenüber Milde walten lassen, meint Stefan Reinecke. Denn sie haben in den letzten Jahrzehnten auch viel Gutes bewirkt.
Die Linksliberalen haben es auch nicht leicht. Irgendwie sollen sie am Aufstieg des Rechtspopulismus Mitschuld haben, der ja ein Aufstand der Provinz gegen Macht und Moral der Metropolen ist. Sie sollen aber auch für die "cancel culture" verantwortlich sein, den neototalitären Gesinnungssturm, der derzeit durch Universitäten und Redaktionen fegt.

Linksliberale sind keine Underdogs mehr

Zu alledem tun die Linksliberalen - so war es neulich in der "Zeit" zu lesen - auch noch so, als wären sie wie früher der "subversive Underdog". Dabei hätten sie doch in Universitäten und Social Media längst die Macht übernommen. Die Linksliberalen lassen es sich, folgt man dem Klischee, in ihren schick renovierten Altbauwohnungen gut gehen, spenden von ihrem nicht schlechten Einkommen für Amnesty und nerven den Rest der Welt mit Moralpredigten.
Vielleicht sollte man etwas gnädiger mit ihnen sein. Die Linksliberalen haben die Bundesrepublik ja offener, freier, empfindsamer gemacht. Als Helmut Kohl 1983 ans Ruder kam, wollte der als erstes Migranten ein paar tausend Mark in die Hand drücken und auf Nimmerwiedersehen loswerden. Von da bis zum Flüchtlingsherbst 2015, als die CDU die Grenzen offen ließ, war es ein weiter Weg.
Die Liste der linksliberalen Erfolge ist lang: Sie reicht von der Frauenquote über freundlichere Kindererziehung bis zur Homo-Ehe. Nein, die Linksliberalen sind keine Underdogs, sie beeinflussen schon lange den Mainstream. Sie sind sogar Mainstream geworden - was dem nicht geschadet hat.

Chiffre für einen bestimmten Lebensstil

Schaut man analytisch auf das Phänomen, sieht man: Linksliberalismus bezeichnet keine homogene Gruppe, die ein politisches Programm verfolgt und durchsetzt. Es ist eher Chiffre für eine Gruppe mit einem ähnlichen Lebensstil, die in der Wissensgesellschaft in den letzten Jahrzehnten enorm an Einfluss gewonnen hat. Diese Gruppe reicht vom IT-Manager bis zur Stiftungsmitarbeiterin, von der Ethnologieprofessorin zum Produktentwickler im Logistikbetrieb. Sie ist weltoffen, flexibel und tolerant.
Diese Eigenschaften sind kein Ausdruck reiner Gutherzigkeit. Wenn man international vernetzt arbeitet oder das Management auf Diversity setzt, sind Weltoffenheit und Toleranz günstig, um im Job Erfolg zu haben.
Wie jede sozial oben angesiedelte Gruppe haben die Linksliberalen Einfluss auf das, was in der Gesellschaft als gutes Leben gilt. 2020 verspricht es mehr Sozialprestige, ein schwules Paar in Berlin Mitte zu sein, das im Urlaub durch Norwegen wandert, als ein Handwerkerehepaar in Osnabrück, das pauschal bucht. Das war vor 40 Jahren noch anders und zeigt: Diese Gruppe verfügt über Macht – diskursive Macht.

Tragende Säule des wissensbasierten Kapitalismus

Die Linksliberalen sind eine herrschende Klasse im kulturellen Kapitalismus geworden - weniger materiell als habituell. Und auch wenn oben in der Bücherwand noch ein verstaubtes Buch von Herbert Marcuse steht – sie sind nicht mehr die Enkel der 68er, sondern eine tragende Stütze des wissensbasierten Kapitalismus.
Die Linksliberalen sind nicht frei von Selbstwidersprüchen. Man isst wegen des Klimas vegan, fliegt aber doch mal auf die Malediven. Linksliberale haben keinen privilegierten Anspruch auf Moral – aber Mülleimer der Nation zu sein, wenn was schief läuft, haben sie auch nicht verdient. Und Vorsicht: Die schärfsten Kritiker der Linksliberalen sind oft Leute, die auch in der Wissensbranche arbeiten, auch in Altbauten wohnen und für Amnesty spenden. Kurzum - eigentlich Linksliberale.

Stefan Reinecke, geboren 1959, ist seit 15 Jahren als Redakteur und Publizist in Berlin tätig, u. a. als Redakteur beim "Tagesspiegel" und bei der "taz", für die er derzeit als Autor arbeitet. Mehrere Buchveröffentlichungen, zuletzt eine Biografie von Christian Ströbele.

Der Publizist Stefan Reinecke
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