Streikrepublik Deutschland

Die neue Kampfkultur der Gewerkschaften

Wenige Tage vor Weihnachten haben Mitarbeiter von Amazon am 15.12.2014 in Leipzig (Sachsen) abermals mit einem Streik begonnen. Der Ausstand soll zunächst bis Mittwoch dauern.
Die Gewerkschaft Verdi bestreikt Amazon drei Tage lang kurz vor Weihnachten. © picture alliance / dpa - Hendrik Schmidt
Von Peter Kessen · 10.01.2017
Was macht Gewerkschaften heute erfolgreich? Unter dem Schlagwort "Organizing" geht es darum, konkrete Probleme und Ungerechtigkeiten in Betrieben zu identifizieren. Dann wird die Belegschaft mobilisiert - und Druck aufgebaut.
Rund zwei Millionen Streiktage und 1,1 Millionen an Streiks beteiligte Beschäftigte bedeuteten für 2015 den höchsten Wert in Deutschland seit über einem Jahrzehnt.
Auffällig bei diesen Arbeitskonflikten ist das Auftauchen einer neuen Art von Gewerkschaftsarbeit in der Bundesrepublik.
Das sogenannte Organizing will die Beschäftigten stärker begeistern: Mehr Kampf, Gefühl und Basisdemokratie - das soll die neue Gewerkschaft sein.
Die Lage ist unübersichtlicher geworden und die Konflikte härter. Trotzdem wittern die Gewerkschaften seit Langem mal wieder Morgenluft.

Gekürztes Manuskript zur Sendung:
Die Gewerkschaften schrumpfen rasant. Heute ist nur noch ein Fünftel der Beschäftigten organisiert, Anfang der 80er Jahre war es in West-Deutschland noch ein Drittel. Allein in den letzten zwölf Jahren verloren die Gewerkschaften vier Millionen Mitglieder. Gleichzeitig verlieren die Arbeitnehmervertretungen an Macht, weil immer weniger Beschäftigte unter Tarifverträgen arbeiten.
Das gewerkschaftsnahe Forschungsinstitut WSI konstatiert die Tarifbindung in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland um rund 15 Prozent abgenommen hat. Im Westen arbeiten noch rund 60 Prozent, im Osten nur noch rund 50 Prozent unter den besseren Bedingungen von Tarifverträgen. Es gibt aber auch wieder gegenläufige Tendenzen und es gibt es neues Konzept.
Organizing heißt der neue Schlüsselbegriff der deutschen Gewerkschaftsarbeit.
Organizing klingt nach NGO, nach moderner Protestkultur und passt gut zu den anderen neuen Begriffen, zum Campaigning, zum Commitment und zu den NoGos.
"Organizing beinhaltet eine bestimmte Grundhaltung und orientiert sich am Leitgedanken einer Offensivstrategie", so heißt es selbstbewusst im "Handbuch Organizing" der IG Metal.
Das Grundprinzip des Organizing baut auf dem Dreischritt Wut-Hoffnung-Aktion auf.
Hier schlägt die Gewerkschaft keine sozialpartnerschaftlichen Töne an:
"Weniger Stellvertreterpolitik. Und mehr direkte Beteiligung der Beschäftigten. Dafür ist es notwendig, die Kolleginnen und Kollegen zu aktivieren und konsequent in Handlungen und Entscheidungen einzubeziehen. Diese Beteiligung ist die Voraussetzung von Demokratie und Emanzipation. Ein solches Vorgehen braucht Zeit und Geduld, ist aber dafür nachhaltig. Es gilt der Grundsatz: Tue nie etwas, was die Kolleginnen und Kollegen selbst tun können."
Rund zwei Millionen Streiktage und 1,1 Millionen an Streiks beteiligte Beschäftigte 2015 bedeuten den höchsten Wert seit über einem Jahrzehnt. Es streikten unter anderem die Eisenbahner der GDL, die Kitas in Nordrheinwestfalen, die Postler von der DHL.
Professor Klaus Dörre: "Also, Organizing ist entstanden in den USA, gar nicht nur in der Gewerkschaftsbewegung. Sondern es gab es als ein Organisationsprinzip auch in Stadtteilen, wo es darum ging, Leute gewissermaßen dazu zu bringen, Kollektiv gemeinsam die Stimme zu erheben, um bestimmte Dinge zu beeinflussen."

Es begann mit der "Bewegung der Hinterhöfe" in Chicago

Es geht darum bisher passive und duldsame Menschen zu aktivieren. Ein Modell jenseits der klassischen deutschen Sozialpartnerschaft: Organizing will Wut und Konflikte.
Organizing wurde zuerst auf Stadtteilebene angewendet. Der US-amerikanische Bürgerrechtler Saul D. Alinsky gilt als Begründer des Community Organizing, er rief am 14. Juli 1939 zur ersten Versammlung der "Bewegung der Hinterhöfe" in den Armenvierteln von Chicago auf. Unter Anleitung von Community Organizern sollen die Bewohner befähigt werden, ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Das Konzept Community Organizing besteht aus Zuhören, Recherchieren und Handeln.
Mitte der 90er begann die Dienstleistungsgewerkschaft SEIU mit Organizing und verdoppelte innerhalb von einem Dutzend Jahren ihre Mitgliederzahl, von 900.000 auf 1,8 Millionen. Daran wollen jetzt auch die deutschen Gewerkschaften anknüpfen: Mehr Kampf, Gefühl und Basisdemokratie.
Die IG Metall betreibt nach eigenen Angaben gerade rund 200 Organizing-Projekte. Verdi realisierte acht große Aktionen im Bereich Bewachung, Krankenhäuser, Flughäfen oder Amazon.
Organizing wird gerade Alltag. Auch kleinere Gewerkschaften wie die IG Bau machen aktuell Organizing, zum Beispiel für die Reinigungskräfte am Frankfurter Flughafen.


Beispiel 1 - Ein Organizing Pilotprojekt für das Prekariat in den modernsten Autofabriken Deutschlands

In den Leipziger Automobilfabriken von BMW, Porsche und den Zulieferbetrieben arbeiten rund 18.000 Menschen, allerdings unter sehr unterschiedlichen Bedingungen. Für etwa die Hälfte der Mitglieder gelten die guten Tarifverträge, das sind die Stammbeschäftigten.
Die andere Hälfte, rund 9000 Menschen, arbeitet als schlechter bezahlte Leiharbeiter oder Werkvertragler. Das Organizing Projekt der IG Metall forderte für die Werkverträge: Kein Lohn unter 10,50 Euro.
"Decke Möglichkeiten auf, Druck zu machen.
Begleite die Beschäftigten wie mit einem Mikroskop.
Wähle die Themen, die bei den Leuten brennen.
Tue nie etwas, was die Kolleginnen und Kollegen selbst tun können!"
So heißt es in einem Papier der IG Metall zum Leipziger Projekt.
Diese Leitsätze sollen in ausgewählten Betrieben umgesetzt werden, nachdem man dort einen Kern von Betriebsaktiven etabliert hat.
Diese Kernaktiven finden zusammen mit den professionellen Organizern der IG Metall dann das heiße Thema und eskalieren die Situation, bis der Erfolg erreicht ist. Es soll so viel Druck aufgebaut werden, dass der Arbeitgeber sich gezwungen sieht, an einer Lösung mitzuarbeiten.
Organizing sucht sich gewinnbare Konflikte. In Leipzig bietet sich da eine geeignete Betriebslandschaft. Die Unternehmen der Leiharbeiter und Werkvertragler arbeiten direkt neben oder sogar in den großen Automobilfirmen - etwa bei BMW.
Die Vernetzung ist so stark, dass auch ein Warnstreik sofort Konsequenzen hat und die Bänder stillstehen. Das hat die Erfolge der Gewerkschaft ermöglicht.

"Man ist nicht mehr ohne weiteres bereit das hinzunehmen"

Der Arbeitswissenschaftler Klaus Dörre hat gerade eine große Untersuchung zu Streiks abgeschlossen. Dabei ist er bei Beschäftigten in Ost und West auf eine neue Einstellung gestoßen:
"Der Druck, der disziplinierende Druck der Prekarität, der dadurch entstanden ist, dass Stammbeschäftigte gesehen haben, unsere Arbeit kann auch billiger gemacht werden, von Leuten, die zu ungleich schlechteren Bedingungen arbeiten, das gibt es alles noch. Aber man ist nicht mehr ohne weiteres bereit das hinzunehmen. Man sagt: Wir wollen unsere Rechte, wir wollen jetzt ein besseres Leben – und wenn unsere Bude zumacht, dann suchen wir uns das nächste seelenlose Arbeitshaus. Das ist eine neue Entwicklung, die kommt den Gewerkschaften zugute, die spielt ihnen in die Hände."


Beispiel 2: Wie das Organizing vom Pilotprojekt in den Alltag wandert und einen bundesweit einmaligen Tarifvertrag erkämpfen hilft

Einer der spektakulärsten Streiks der letzten Jahre, fand 2016 am Berliner Universitätsklinikum Charité statt. Die Belegschaft und Verdi erkämpften sich zum ersten Mal einen Tarifvertrag, der auch die Mindeststellenbesetzung auf den Stationen regelt.
Die außergewöhnlich hohe Streikbereitschaft der Beschäftigten der Charité hat den Erfolg erst möglich gemacht.
Anlass für den Streik an der Charité war, dass die Überstundenzahl stark anstieg und die Arbeitsbelastung aus Sicht vieler Beschäftigter zu groß wurde.
Eine Mitarbeiterin der Charité demonstriert in Berlin mit einem Plakat mit der Aufschrift "Pflege soll nicht krank machen"
Eine Mitarbeiterin der Charité demonstriert in Berlin mit einem Plakat mit der Aufschrift "Pflege soll nicht krank machen"© picture alliance / dpa / Soeren Stache
Wie bei der Krankenschwester Grit Wolff von der Verdi Betriebsgruppe:
"Das bedeutet für mich, dass ich noch eine größere Patientengruppe zu übernehmen habe. Das ich in dem Moment auch Angst habe, dass ich Sachen übersehe, dass ich Sachen vergesse, die wichtig sind, dass ich meine Überwachungstätigkeiten, für die Schlaganfallpatienten nicht mehr hundertprozentig wahrnehmen kann. Das bedeutet einfach immer nur Stress und innere Unruhe. Ich bin nachts alleine mit zwanzig Patienten, und dabei sind aber sechs Patienten mit Monitor überwacht. Und das ist auf jeden Fall, ein No-Go eigentlich. Und unterm Strich ist es in der Realität auch so, ich kann diesen Anforderungen auch einfach nicht mehr gerecht werden."
Die Verdi Betriebsgruppe begann die Stationen zu besuchen um herauszufinden, wie die Beschäftigten ihre Arbeitssituation einschätzten. Dabei ging es vor allem darum, wie das Pflegepersonal die Umsetzung des letzten Tarifvertrages bewertet.
Die große Unzufriedenheit mit der Arbeitssituation führte dann zum Streik.
Organizing scheint zu wirken, besonders da, wo Beschäftigte in prekären und arbeitsintensiven Bereichen arbeiten. Wie zum Beispiel die Beschäftigten im Automobilzentrum Leipzig oder die Krankenpfleger und Krankenschwestern an der Berliner Charité. Und Organizing erzielt vor allem da Erfolge, wo vergleichbare Arbeit unter sehr unterschiedlichen Bedingungen sattfindet.
(huc)
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