Strategien gegen autoritären Populimus

Mehr Demokratie wagen!

29:14 Minuten
Illustration: König und Dame aus einem Kartenspiel schütteln einander die Hände.
"Wir müssten an einer Demokratisierung der Globalisierung arbeiten, so schwer das auch sein mag", sagt Michael Zürn © imago images / Ikon Images / Mitch Blunt
Moderation: Susanne Führer · 20.03.2021
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Der Erfolg der Populisten liegt auch an den Schwächen der Demokratie, sagt der Politologe Michael Zürn. Häufig entscheiden keine Parlamente mehr, sondern Institutionen. Wer die Demokratie retten will, müsse ganz im Sinne von Willy Brandt handeln – auch international.
Die Stimmenverluste für die AfD bei den letzten Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz hält der Politikwissenschaftler Michael Zürn nur für eine "Verlangsamung der Verschlimmerung" und nicht für eine Trendumkehr. Er sieht die Gefahr, dass die autoritären Populisten nach der Pandemie wieder Stimmen gewinnen werden. Denn dann würden wahrscheinlich die öffentlichen Haushalte so sehr unter Druck stehen, dass die Politik kaum gestalten könne, und die wirtschaftliche Ungleichheit werde größer sein als heute.

Einmaliger Rückschritt der Demokratien

In den vergangenen 15 Jahren habe es einen historisch einmaligen Rückschritt der Demokratie weltweit gegeben, "wenn, dann überhaupt nur vergleichbar mit dem Rückschritt in den 1930er-Jahren", sagt Zürn. Als Beispiele nennt er Brasilien, Indien, Polen, die Türkei. Circa 30 Prozent der Weltbevölkerung würden von autoritären Populisten regiert. "Und dazu kommen natürlich noch die anderen alten Autokratien à la China."
Die Ursachen für den Aufstieg der Populisten sieht Michael Zürn auch in den real existierenden Schwächen der Demokratie. Zum einen seien die Parlamente voller Akademiker. Handwerks- oder Dienstleistungsberufe seien so gut wie gar nicht vertreten. Die politische Klasse unterscheide sich nicht nur in ihrem Habitus von großen Teilen der Bevölkerung, sondern sie mache auch Gesetze, die vor allem der eigenen Schicht gefallen würden.
Zum anderen hätten die Parlamente erheblich an Macht verloren. Wichtige Entscheidungen würden heute von Institutionen getroffen, die nicht demokratisch kontrolliert werden. Beispiele: Zentralbanken, Verfassungsgerichte, die Runde der Staats- und Regierungschefs der EU, internationale Klimakonferenzen.

Unzufriedenheit mit dem politischen System an sich

Diese beiden Entwicklungen zusammen erklären, laut Michael Zürn, die Unzufriedenheit vieler Bürgerinnen und Bürger mit dem politischen System an sich. Und das, obwohl eine sehr große Mehrheit die eigene sozioökonomische Lage positiv beurteilt, und sogar besser beurteilt als vor 20 Jahren. (Die Umfragen stammen aus der Zeit vor der Pandemie.)
Doch das werde von den demokratischen Parteien nicht erkannt, meint Michael Zürn.
"Der Großteil der politischen Klasse sieht nach wie vor – so mein Eindruck – den Aufstieg dieser Parteien als ein vorübergehendes Problem, was mit den richtigen Politiken bekämpft werden kann. Sie denken: ´Wir müssen nur ein bisschen die Schrauben bei der Migrationspolitik und bei der Sozialpolitik wieder in die richtige Richtung drehen. Dann funktioniert das schon.` Mir scheint, es ist noch nicht angekommen, dass es sich um reale Probleme der Funktionsweise des politischen Systems handelt, welche durch die autoritären Populisten aufgegriffen werden."
Die Populisten setzten gegen die Schwächen der Demokratie allerdings kein besseres demokratisches Verfahren, sondern die Aushöhlung der Demokratie. Es gebe dann zwar noch Wahlen, aber die Voraussetzungen für wirklich freie und faire Wahlen – Meinungs- und Pressefreiheit, eine echte Opposition beispielsweise – gebe es nicht mehr.

"Demokratisierung der Globalisierung"

Wir müssten stattdessen an einer "Demokratisierung der Globalisierung arbeiten, so schwer das auch sein mag", sagt Michael Zürn. Als erster Schritt wäre es schon hilfreich, wenn die Auseinandersetzungen, die es in Institutionen wie Zentralbanken oder auf EU-Gipfeln gibt, öffentlich gemacht würden und die Gründe für die endlich getroffenen Entscheidungen erläutert würden. Offenheit statt verschlossener Türen, Diskussion statt behaupteter Alternativlosigkeit.
"Die Antwort auf die Schwächen und Krisen dieser demokratischen Institutionen, in denen wir derzeit leben, lautet: Mehr Demokratie wagen! – Willy Brandt lebt!"
(sf)

Michael Zürn ist Politikwissenschaftler, der Professor lehrt Internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin, außerdem ist er Direktor der Abteilung "Global Governance" am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Zuletzt erschienen: "Die demokratische Regression", gemeinsam mit Armin Schäfer (Suhrkamp).

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Das Interview in ganzer Länge:
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben gerade gemeinsam mit Armin Schäfer ein Buch über den Aufstieg autoritär-populistischer Parteien veröffentlicht, "Die demokratische Regression". Doch eigentlich könnte man aktuell eher von einer populistischen Regression sprechen, von einem Rückschritt, einer Rückentwicklung der Populisten. Donald Trump ist abgewählt, die AfD hat bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz kräftig verloren. Ist der Populismus inzwischen auf dem Rückzug?
Michael Zürn: Die letzten Monate haben sicherlich eine – wie soll ich sagen – eine Verlangsamung der Verschlimmerung gebracht. Aber man sollte sich jetzt nicht allzu vorschnell freuen. Die Landtagswahlen haben vor dem Hintergrund einerseits einer komplett zerstrittenen AfD stattgefunden und andererseits der Erfahrung, dass viele der populistischen Regierungen – also dort, wo die Populisten die Macht haben – in der Pandemie versagt haben. Trotzdem sind immer noch zweistellige Ergebnisse rausgekommen oder annähernd zweistellige Ergebnisse. Das ist so gesehen sogar überraschend viel.
Dazu kommt noch etwas anderes. Wenn diese Pandemie hoffentlich irgendwann einmal zu Ende sein wird oder wir sozusagen zur Normalität zurückkehren, dann werden wir in einer Welt leben, in der die öffentlichen Haushalte unter enormem finanziellen Druck stehen. Die Schulden werden enorm hoch sein. Das heißt, die Handlungsspielräume der Politik gehen wieder zurück. Es wird wieder schwerer, Differenzen zwischen unterschiedlichen Parteien zu identifizieren, weil alle unter diesem engen Handlungsdruck stehen.
Die Ungleichheit wird wahrscheinlich nochmals zunehmen. Die Ununterscheidbarkeit der Parteien angesichts mangelnder Handlungsspielräume und eine wachsende Ungleichheit – das ist das Umfeld, in dem die autoritären Populisten groß geworden sind. Von daher besteht die Gefahr, dass wir jetzt eine vorübergehende Delle, ein vorübergehendes Tief dieser Parteien sehen, sie aber wieder nach oben kommen werden.

Drastischer Rückschritt an Demokratie-Qualität

Deutschlandfunk Kultur: Blicken wir auf die Demokratie und die Krise, in der sie steckt – wahrscheinlich spricht man ja von einer Krise der Demokratie, seitdem es sie gibt. Das kennen wir ja von vielen anderen Phänomenen. Aber in den letzten Jahren haben sich die Veröffentlichungen dazu multipliziert. Und inzwischen kriselt es nicht nur, Demokratien sterben sogar. Die Anzahl der Demokratien in der Welt hat abgenommen, was ja eine erstaunliche Entwicklung ist, weil wir doch dachten, nach dem Ende des Kalten Krieges würden sich nun alle in Richtung Demokratie aufmachen. Wie stark ist dieser Rückgang?
Zürn: Der ist schon deutlich. Es hängt natürlich immer davon ab, welche Daten man heranzieht. Es gibt verschiedene Versuche, die demokratische Qualität unterschiedlicher politischer Systeme zu bemessen und das dann hochzurechnen. Und da sehen wir, dass seit etwa 15 Jahren ein deutlicher Rückschritt zu beobachten ist, der in der Intensität historisch bisher eigentlich nicht da war – wenn, dann überhaupt nur vergleichbar mit dem Rückschritt in den 1930er-Jahren. Das ist schon eine bemerkenswerte Veränderung.
Und wir reden ja nicht nur über ein paar Länder, was den Aufstieg von rechtspopulistischen oder autoritärpopulistischen Parteien betrifft. Wir reden vor allem auch über sehr große Länder: Brasilien, Indien, Türkei, Polen, bis vor Kurzem die USA. Sodass man momentan festhalten muss, dass ca. 30 Prozent der Weltbevölkerung von Regierungen regiert werden, in denen autoritäre Populisten das Sagen haben. Und dazu kommen natürlich noch die anderen alten Autokratien à la China.

Demokratien werden langsam unterlaufen

Deutschlandfunk Kultur: Wo sind Demokratien tatsächlich eingegangen?
Zürn: Demokratien werden nicht mehr abgeschafft. Sie werden nicht mehr von Panzern überrollt, und dann von irgendeinem Militärregime beiseitegeschoben. Das Besondere dieser autoritären Populisten ist, dass sie Wahlen benötigen. Sie behaupten nämlich, den Willen der einfachen Bevölkerung, der normalen Bevölkerung zu repräsentieren.
Und was sie dann machen, ist ein langsames Unterlaufen und Unterspülen der Demokratie. Das fängt meistens an mit dem Auf-die-Linie-Bringen von Verfassungsgerichten, entweder dadurch, dass neue Richter benannt werden oder dass die Verfassungsgerichte ihre Kompetenzen verlieren. Das geht dann weiter, was die Öffentlichkeit, was die öffentlichen Debatten anbetrifft, was die Einschränkung der Medienvielfalt anbetrifft, was die Aushebelung der Qualitätsmedien als Schiedsrichter im politischen Prozess anbetrifft. Die öffentliche Debatte ist häufig der zweite Punkt. Und ein dritter Punkt ist dann irgendwann die offene Wahlmanipulation.
Alles drei zusammen führt langsam, aber sicher dazu, dass Sie zwar immer noch Wahlen haben, dass aber bestimmte Grundbedingungen einer funktionierenden Demokratie nicht mehr erfüllt sind.

China gewinnt an Attraktivität

Deutschlandfunk Kultur: Freie Medien, freie Oppositionsparteien usw. – Ich will kurz einfügen: Myanmar ist ein Gegenbeispiel. Da rollen durchaus die Panzer. – Aber ansonsten, sagen Sie, ist es eher ein schleichender Prozess, der stattfindet – so wie zum Beispiel bei unseren EU-Mitgliedern Polen und Ungarn.
Zürn: So ist es. Und wenn ich sage, dass das in diesen Fällen, wenn autoritäre Populisten die Macht ergreifen, ein schleichender Prozess ist, so ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass es nach wie vor alte Formen der Rückkehr der Autokratie, der autoritären politischen Systeme gibt. Und wir haben zusätzlich zu den autoritären Populisten, wie bereits gesagt, mit China, einer inzwischen stark technokratischen Autokratie, ein Land, welches eben auch aufgrund seiner politischen Erfolge, nicht zuletzt jetzt auch in der Pandemie, weltweit betrachtet durchaus an Attraktivität gewinnt.
Deutschlandfunk Kultur: Ja, nicht nur durch die Erfolge in der Pandemie, sondern auch insgesamt durch die wirtschaftlichen Erfolge. China ist es immerhin gelungen, mehrere hundert Millionen Menschen aus der Armut zu führen.
Zürn: Das ist eine enorme historische Leistung, die größer ist als die, die Demokratien in Europa jemals zustande gebracht haben bzw. aufgrund der Bevölkerungsgröße zustande bringen konnten. Aber der entscheidende Punkt dieser Technokratie in China ist ja, das eigentlich für das liberale Denken schon fast Überraschende, dass über Jahrzehnte hinweg eine autoritäre politische Regierung, die das Land kontrolliert, Menschenrechtsverletzungen vornimmt, trotzdem eine Politik vollzieht, in der eine Gemeinwohlkomponente zu erkennen ist.
Wir haben also keine Plutokratie, keinen Prozess, in dem die Autokratie immer mehr verkommt zu einem Selbstbedienungsapparat der Mächtigen. Sondern in Ländern wie China, Singapur, teilweise auch Vietnam können wir Prozesse beobachten, dass solche autoritären Regime Mechanismen finden, um eine gewisse nachvollziehbare Gemeinwohlorientierung aufrecht zu erhalten. China ist kein Land, in dem ich leben möchte, verstehen Sie mich nicht falsch, aber diese Erfolge bei der Armutsbekämpfung sind für ein Land, was so arm war wie China, eine fantastische Entwicklung.

Krisen befördern Populismus

Deutschlandfunk Kultur: In der westlichen Welt hat die Entwicklung der vergangenen 15, 20 Jahre gezeigt: Die Demokratie ist auf dem Rückzug, der Populismus ist auf dem Vormarsch. Die Frage ist, in welchem Zusammenhang diese beiden Entwicklungen stehen.
Wenn wir nicht nach Österreich oder Brasilien oder Frankreich blicken, sondern nach Deutschland und uns die vergangenen Jahre ansehen, dann scheint der Erfolg der AfD vor allem mit der Ankunft der vielen Flüchtlinge im Jahr 2015 zusammenzuhängen und nicht mit dem Zustand der Demokratie hierzulande.
Zürn: Wenn man nur die AfD anschaut, dann drängt sich dieser Eindruck auf. Das ist richtig. Aber die AfD ist ja Teil einer Parteienfamilie, die es in vielen Ländern gibt. Und in vielen dieser anderen Länder, die Sie genannt haben, Österreich, Niederlande, Frankreich, gab es diese Parteien in erkennbarer Größe schon vor der Flüchtlingssituation. Das deutet darauf hin, dass hier schon Prozesse im Gange waren, die dafür sorgten, dass diese Parteien in all diesen Ländern stark wurden. Dass sie in Deutschland dann später Erfolg hatten, hat natürlich auch etwas mit der deutschen Geschichte zu tun.
Wenn man einen solchen vergleichenden Blick wagt, dann merkt man, dass nicht nur diese Migrationskrise der Grund ist. Aber es sind, um das vielleicht noch gleich anzufügen, es sind Krisen. Es sind Krisen, in denen überaus deutlich wird, dass der traditionelle Mechanismus der Beeinflussung der Politik durch die einfache Bevölkerung, durch die normale Bevölkerung - nicht durch die Eliten - die Identifikation mit einer Partei und die Repräsentation durch eine Partei im Parlament, dass dieser Mechanismus an Bedeutung verloren hat.
Denn gerade in diesen Krisen wird überdeutlich, dass es nicht mehr die Parlamente sind, die die entscheidenden Entscheidungen treffen. Es sind europäische Institutionen, es sind Zentralbanken, es sind nächtliche Treffen in Brüssel, es sind die Ministerpräsidentenrunden, nie spielt das Parlament eine Rolle. Diese Verlagerung der politischen Entscheidungsprozesse wird in solchen Krisen und eben auch in der Flüchtlingskrise, wenn man den Begriff mal verwenden will, überdeutlich.

Die drei Wellen einer Krise

Deutschlandfunk Kultur: Aber Moment, dann verstehe ich die Ergebnisse der Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz nicht. Wir sind mitten in der Corona-Krise. Die AfD hat stark verloren, und es sind die Regierenden, die gewonnen haben.
Zürn: Wenn eine Krise auftritt, kann man von drei Wellen reden. Die erste Welle ist die Identifikation mit der Regierung, mit der Exekutive. Das haben wir auch in Deutschland, das haben wir selbst in den USA deutlich gesehen. In solchen Fällen passiert das, was man in den USA "rally behind the flag" nennt. Die Leute stellen sich hinter ihre Regierung. Das ist aber ein relativ kurzfristiger Prozess.
Eine zweite Phase wird dann entscheidend dadurch bestimmt, ob die Regierungen in der Krise erkennbar gute Krisenbewältigungsarbeit leisten. Und hier haben wir die Situation gehabt, dass die autoritären Populisten – sei das Trump, sei das Bolsonaro, sei das Modi, auch Putin – nach allem, was uns an Informationen vorliegt, alles andere als besonders erfolgreich waren. Das hat auch durchgeschlagen, sodass zunächst diese Art von Parteienfamilie eher Schaden genommen hat.
Der dritte Effekt, die dritte Welle wird bestimmt von der Antwort auf die Frage: Was kommt nach der Krise? Und nach der Krise wird möglicherweise die Ungleichheit wieder ansteigen. Nach der Krise wird das politische System unter enormem Handlungsdruck stehen, ohne Handlungsoptionen zu haben, ohne Ressourcen zu haben. Und das könnte das Umfeld sein, in dem dann die Populisten wieder an Stimmen gewinnen.
Dass wir momentan diese Ergebnisse haben, hat also damit zu tun, dass die Populisten in dieser spezifischen Krise schlecht regiert haben und im Falle der AfD, wie gesagt, die innere Zerstrittenheit, die in den letzten Monaten sehr deutlich geworden ist.

Misstrauen gegen das politische System an sich

Deutschlandfunk Kultur: Wenn Sie von einem Anstieg der Ungleichheit sprechen – ich nehme an, Sie meinen die wirtschaftliche Ungleichheit – , dann liegt ja die Vermutung nahe, dass Sie dem "ökonomischen Ansatz" nahestehen.
Kurz zusammengefasst: Es gibt seit Jahren, seitdem über die Erfolge der Populisten diskutiert wird, zwei Ansätze, um ihn zu erklären. Der eine ist der kulturelle: Da gibt es einen Konflikt zwischen diesen aus ihrer eigenen Sicht hippen Großstädtern, mehrsprachig, mobil, immer unterwegs, heute hier, morgen dort. Und auf der anderen Seite stehen die eher traditionellen Kleinstädter und Landbewohner, heimatverbunden und Freunde der Gardinen mit Goldkante. Die Anywheres wählen die Grünen und die anderen wählen die AfD. Das wäre der kulturelle Konflikt, der sich da abbildet.
Und der ökonomische Ansatz, der von Philip Manow hier im Deutschlandfunk Kultur vertreten wurde, nennt wirtschaftliche Gründe. Wer von Abstieg bedroht ist oder ihn schon einmal erlebt hat, neige eher dazu, die Populisten zu wählen. Im Grunde genommen – laut Philip Manow – ist Populismus ein Protest gegen die Globalisierung, gegen den freien Verkehr von Kapital und Menschen. – Welchen Ansatz verfolgen Sie? Wo sehen Sie den Konflikt?
Zürn: Zunächst einmal bilden die kulturelle Spaltung der Gesellschaft und die wachsende Ungleichheit einen Hintergrund, der dem Aufstieg dieser autoritären Populisten dient. Das will ich überhaupt nicht infrage stellen. Das habe ich auch vorhin akzentuiert, als ich sagte, wenn die Ungleichheit in unserer Gesellschaft nach der Pandemie tatsächlich ansteigt, dann besteht die Gefahr, dass die autoritären Populisten davon profitieren.
Aber dennoch greifen beide Erklärungen, etwas zu kurz. Die ökonomische Erklärung von Philip Manow hat ein hohes Maß an Plausibilität gerade in der Finanzkrise gehabt, als wir einen Aufstieg auch von Linkspopulisten in Südeuropa hatten. Die sind aber inzwischen fast von der Bühne verschwunden.
Das Entscheidende scheint mir zu sein, dass wir in allen diesen Ländern laut Umfragen vor der Corona-Krise eine deutlich größere Zufriedenheit mit den sozioökonomischen Politiken, der sozioökonomischen Situation haben als vor 20 Jahren. Eine große Mehrheit, eine deutlich größere Mehrheit als die Wähler der AfD, befürwortet Gleichstellungpolitiken, befürwortet liberale Gesellschaftspolitiken – und trotzdem hegen inzwischen gut 75 Prozent der Bevölkerung in unserem Land ein Misstrauen gegen das politische System und gegen die Parteien. Man ist heute zufriedener mit der eigenen ökonomischen Situation.
Und trotzdem steigt die Zustimmung zu populistischen Parteien an, weil gleichzeitig eine wachsende Unzufriedenheit mit dem politischen System, mit den Parteien zugenommen hat, ein wachsendes Misstrauen, ob diese Politik eigentlich noch die Interessen der breiten Bevölkerung vertritt. Wir haben insofern eine Kritik, die sich ganz stark gegen das politische System richtet und nicht mehr so stark gegen spezifische Politiken.

Die politische Klasse repräsentiert nicht das Volk

Deutschlandfunk Kultur: Dann sprechen wir mal über das politische System und seine Schwächen, denn vielleicht hat diese Unzufriedenheit auch gute Gründe. Ihr Co-Autor Armin Schäfer zum Beispiel hat hier im Deutschlandfunk Kultur bereits dargelegt, dass unsere Parlamente fast nur noch mit Akademikern besetzt sind. Was zur Folge habe – ich vereinfache stark –, dass die Gesetze, die von diesen Akademikerparlamenten gemacht werden, vor allem im Sinne von Akademikern sind. Und deswegen fühlten sich viele Menschen gar nicht mehr vertreten von ihren Volksvertreterinnen und -vertretern. – Ist das ein Faktor, der den Erfolg der populistischen Parteien erklärt?
Zürn: Das ist einer der beiden wesentlichen Faktoren. Da spielt, glaube ich, zusätzlich auch noch Kultur oder Habitus - wie immer man das nennen möchte – eine Rolle. Selbst die Politiker, die ja immer so auftreten, dass sie eine sozial schützende Politik für die benachteiligte Bevölkerung machen, auch die treten vom Habitus her als Teil der politischen Klasse auf. Man erkennt sie nicht mehr als Repräsentanten der Arbeiterklasse. Man erkennt sie nicht mehr als Repräsentanten der benachteiligten Bevölkerung. Sie alle tragen sozusagen die gleiche Uniform, die gleiche Business-Uniform. Man möchte als Teil der politischen Klasse erkannt werden.
Da haben wir auch ein symbolisches Problem der mangelnden Repräsentation, was unterfüttert wird durch die starke Bildungsorientierung der politischen Klasse, die sich auch durch eine bestimmte Form der Ausbildung kennzeichnet.

Die Parlamente verlieren an Macht

Deutschlandfunk Kultur: Man denke an Peer Steinbrück und seinen Spruch über den Pinot Grigio für fünf Euro.
Zürn: Beispielsweise. Das ist das eine. Das andere ist, ich hatte das vorhin schon angedeutet, dass das Parlament selbst in gewisser Weise entmachtet worden ist. Die Bedeutung von nationalen Parlamenten hat in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten dramatisch abgenommen. Überall in der Welt gibt es einen Zuwachs an Kompetenzen für Zentralbanken, für Verfassungsgerichte. Wir haben überall in der Welt internationale und europäische Institutionen, die an Gewicht, an Entscheidungskompetenz gewonnen haben. Und sie alle haben diese Kompetenzen zuungunsten des Parlamentes gewonnen.
Das heißt, nicht nur, dass die Möglichkeit zu wählen – wer sitzt im Parlament –, deutlich eingeschränkt ist, dass die Wahlmöglichkeit eingeschränkt ist. Zudem ist auch noch die Wahlmöglichkeit der Parlamente, bestimmte Politiken durchzuführen, deutlich eingeschränkt, weil sie eingebettet sind in sehr starke "nicht-majoritäre Institutionen", das heißt in Institutionen, die nicht nach dem Prinzip der Mehrheit entscheiden, sondern nach dem Prinzip der Richtigkeit.

Ist Nationalismus demokratisch?

Deutschlandfunk Kultur: Aber Populisten versprechen genau das zu ändern. Erstens versprechen sie, "wir setzen den wahren Volkswillen um, der durch diese ‚Quatschbuden‘, in denen die Leute in Business-Anzügen sitzen, gar nicht mehr erkannt wird". Und zweitens versprechen sie, die nationale Souveränität wieder zu stärken – gegen diese, wie Sie es nennen, nicht-majoritären Institutionen, also gegen Institutionen wie Zentralbanken, EU-Kommission usw., die alle nicht demokratisch kontrolliert sind.
Und das tun die Populisten dann auch. Denken wir an Donald Trump und die vielen internationalen Abkommen, die er aufgekündigt hat. Polen und Ungarn sagt auch, "ist uns doch egal, was die EU sagt, wir machen hier unsere Politik". – Halten die Populisten, was sie versprechen, wenn sie einmal an der Macht sind?
Zürn: Die Populisten greifen ein Defizit existierender Demokratien auf, das zu einem gewissen Maße einen realen Gehalt hat. Die Antwort, die sie darauf geben, ist zutiefst undemokratisch.
Zum einen müssen wir davon ausgehen, dass diese Institutionen, über die wir gesprochen haben, insbesondere die europäischen und internationalen, schon länger nicht nur notwendiger Bestandteil der Politik sind, um zentrale Probleme zu lösen - Klimaproblematik, Finanzkrise, Besteuerung von großen digitalen Unternehmen. All das geht nicht mehr auf der nationalen Ebene.
Dazu kommt auch noch ein tiefer liegendes demokratisches Problem. Wenn die USA heute die Entscheidung treffen, ihre Klimapolitik zu stoppen und aus dem Übereinkommen von Paris auszutreten, leben die zunächst Hauptleidtragenden außerhalb des Landes. Beispielsweise die Bewohner der pazifischen Inseln, deren Land im Meer versinkt. Wenn man will, dass sie bei der Klimapolitik ein Mitspracherecht haben, was ja eigentlich demokratisch ist, dann bedarf es auch starker internationaler Institutionen. "Nation first", "America first" usw. hat auch einen undemokratischen Gehalt.
Und das Zweite ist: Viktor Orbán und andere unterminieren ganz systematisch die Demokratie und schaffen ein System, in dem die autoritären Populisten eigentlich nicht mehr abzuwählen sind. Sie haben einen zutiefst antidemokratischen Bias, sie untergraben die liberalen Grundlagen der Demokratie – im Namen der Demokratie.

Der Populismus zeigt die Fehler im demokratischen System

Deutschlandfunk Kultur: Sie haben gesagt, die Kritik der populistischen Parteien an der real existierenden Demokratie habe einen realen Gehalt. Dann könnte oder müsste man die Erfolge der Populisten, die vielen Wählerstimmen, die sie einsammeln können, als einen Weckruf für die Demokratie und die Demokratinnen und Demokraten sehen. Haben Sie den Eindruck, Herr Zürn, dass dieser Weckruf gehört wird? Denn der lautet ja im Grunde genommen: "Leute, ihr müsst was ändern an eurem System!"
Zürn: Den Eindruck habe ich nicht. Das ist auch einer der Gründe, warum wir dieses Buch geschrieben haben. Der Großteil der politischen Klasse sieht nach wie vor – so mein Eindruck – den Aufstieg dieser Parteien als ein vorübergehendes Problem, was mit den richtigen Politiken bekämpft werden kann. Sie denken: "Wir müssen nur ein bisschen die Schrauben bei der Migrationspolitik und bei der Sozialpolitik wieder in die richtige Richtung drehen. Dann funktioniert das schon.
Wir müssen aufpassen, dass wir die Identitätspolitiken nicht überhandnehmen lassen." Es herrscht nach wie vor die Überzeugung, wenn man nur die richtigen Politiken macht und dann auch noch so kommuniziert, dass man "zum Wähler, zur Wählerin durchdringt", ein gern gewählter Topos, dann kriegen wir das schon wieder hin.
Mir scheint, es ist noch nicht angekommen, dass es sich um reale Probleme der Funktionsweise des politischen Systems handelt, welche durch die autoritären Populisten aufgegriffen werden. Dagegen setzen die Populisten aber nicht ein besseres demokratisches Verfahren, sondern im Prinzip die schlichte Überzeugung: "Wir müssen all diese korrupten Verfahren der Demokratie einfach abschaffen. Wir brauchen keine Verfahren. Wir brauchen keine Prozedere. Der Parteichef weiß ja schon, was wir wollen."
Heinz-Christian Strache von der FPÖ hatte einmal ein Plakat, "Er weiß, was wir wollen". Das ist eine Ent-Prozeduralisierung der Demokratie, die als Antwort auf die Probleme der Demokratie, die wir gerade besprochen haben, gegeben wird und die nicht hinreichend ist.

Kann man die Globalisierung demokratisch gestalten?

Deutschlandfunk Kultur: Sie argumentieren aus der Warte eines Demokraten. Wenn mein Problem aber gar nicht die Demokratie ist, sondern zum Beispiel die nationale Souveränität, wenn ich finde, dass wir raus sollten aus all diesen internationalen Abkommen, dann bin ich ja vielleicht genau richtig bei den Populisten.
Klimaerwärmung, Finanzmärkte, Corona-Pandemie – die Welt ist verflochten wie nie. Wir müssen international zusammenarbeiten. Und das müsste man demokratisch kontrollieren. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie das gehen könnte. Im Grunde genommen müsste man die Globalisierung demokratisieren.
Zürn: In letzter Instanz wird es darum gehen müssen. Ja. Der Ruf nach nationaler Souveränität, nach Handlungskompetenz, um die Stimme des Volkes wieder besser zu hören, hört genau an der Stelle auf, wenn es darum geht, die wirklich großen Probleme anzugehen.
Ich halte es für keinen Zufall, dass die AfD versucht, die Corona-Leugner auf ihre Seite zu bekommen, genauso wenig wie es ein Zufall ist, dass fast alle diese autoritären Populisten die Klimaerwärmung zumindest infrage stellen, wenn nicht gar leugnen. Warum? Weil sie natürlich mit ihrer Antwort – nationale Politik, America first, Deutschland first – überhaupt keine Antworten auf diese Fragen entwickeln können. Und wenn man keine Antwort mit dem eigenen politischen Programm hat, dann macht es ja durchaus Sinn, das Problem einfach zu leugnen.
Das peinliche Schweigen zu solchen Themen wie den globalen Ursachen der Pandemie, der Notwendigkeit, sie global zu bekämpfen und sie überhaupt bekämpfen zu können, das Schweigen zur bevorstehenden Klimakrise – das ist alles Ausdruck eines Denkens, das die Politik nur national dominieren und raus aus diesen internationalen Zusammenhängen will.
Es gibt, glaube ich, nur zwei Optionen: Entweder Renationalisierung der Politik, die aber genau aus diesen Gründen auf systematische Grenzen stößt, oder eben langfristig doch an einer Demokratisierung der Globalisierung arbeiten, so schwer das auch sein mag.

Gegen Misstrauen helfen Offenheit und Diskussion

Deutschlandfunk Kultur: So schwer das auch sein mag. Wie könnte denn eine demokratische internationale Politik aussehen?
Zürn: Aus meiner Sicht wäre schon wahnsinnig viel gewonnen, wenn wir die politische Auseinandersetzung, die es ja über internationale Politiken gibt, die politische Auseinandersetzung, die es auch in nicht-majoritären Institutionen gibt – in Zentralbanken, Verfassungsgerichten etc. –, wenn diese Auseinandersetzung transparent gemacht wird, wenn sie offengelegt wird, wenn wir tatsächlich zunächst einmal eine öffentliche Auseinandersetzung über diese Politiken bekommen.
Die Neigung, die insbesondere auch unsere ansonsten von mir geschätzte Kanzlerin hat, die Beschlüsse, die in Brüssel getroffen werden, hinter verschlossenen Türen zu treffen und schnell einen guten Kompromiss zu finden, um dann nach Hause zu gehen und zu sagen, "darüber möchte ich gar nicht diskutieren, es gibt keine Alternative" – diese Neigung verstärkt die Ablehnung dieser Institutionen.
Wir brauchen noch gar nicht in Kategorien einer funktionierenden parlamentarischen europäischen Demokratie zu denken, aber wenn wenigstens die politischen Auseinandersetzungen in diese Institutionen hineingetragen werden, dort offen ausgetragen werden, dann, denke ich, ist schon mal ein Element der gefühlten Repräsentation der eigenen Meinung gewonnen. Und das wäre schon ein kleiner Schritt in Richtung auf die Demokratisierung der Globalisierung.
Deutschlandfunk Kultur: Aber ein winzig kleiner. Denn es bleibt ja dabei, es sind die Staats- und Regierungschefs, die die Entscheidungen treffen.
Zürn: Ja, aber wenn die ihre Gründe offenlegen müssen, wenn deutlich wird, dass auch diese Entscheidungen Kompromisse sind, die von demokratisch regierten Regierungschefs getroffen werden und verschiedene Perspektiven berücksichtigt werden und dass die Lösung, die dort gefunden wurde, nicht technokratisch gegeben ist, sondern das Resultat einer fairen Auseinandersetzung ist, dann ist es – wie gesagt – ein kleiner Schritt, aber vielleicht ein gewichtiger Schritt.
Und genau vor dem Hintergrund einer solchen offenen Auseinandersetzung über diese Politiken können dann auch die parlamentarischen Institutionen der europäischen Institutionen, also das Europäische Parlament, wiederum an Bedeutung gewinnen. Das Problem des Europaparlamentes ist nicht, dass es keine Rechte hat. Es hat eigentlich relativ viele Rechte.
Das Problem ist, dass die Wähler gar nicht wissen, was sie wählen, wenn sie für das Europäische Parlament wählen. Und indem die politische Auseinandersetzung stattfindet, auch auf europäischer Ebene, wird auch die Europawahl an Bedeutung gewinnen, also wenn man weiß, was es bedeutet, wenn man hier oder dort das Kreuz macht. Momentan weiß man das einfach nicht.

Willy Brandt lebt!

Deutschlandfunk Kultur: Europa ist ja bekannt als die große Kompromissmaschine. Das ist genau das Problem oder der Vorteil – je nach Perspektive. Man weiß nicht mehr, wer ist eigentlich wofür verantwortlich. Das ist auch ein Grund, glaube ich, warum die Briten sich mit Europa nie so wirklich angefreundet haben, weil sie das Mehrheitswahlrecht haben.
Ihre Antwort auf die Probleme der Demokratie lautet: Mehr Demokratie wagen?
Zürn: Die Antwort auf die Schwächen und Krisen dieser demokratischen Institutionen, in denen wir derzeit leben, lautet: Mehr Demokratie wagen! – Willy Brandt lebt.
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