Strahlenbiologe kritisiert "Geheimniskrämerei"

Edmund Lengfelder im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 15.03.2011
Der Leiter des Münchner Otto-Hug-Strahleninstitutes, Edmund Lengfelder fordert von der deutschen Politik eine bessere und vertrauenswürdigere Information über den Einsatz von Notfallplänen nach einem Atomunfall. Die derzeitige "Geheimniskrämerei" solle nach der Strategie der Kraftwerksbetreiber und der Politik eine Beunruhigung in der Bevölkerung verhindern.
Liane von Billerbeck: Wenn man sieht, wie in Japan um die vom Erdbeben beschädigten Atomreaktoren evakuiert wurde, dann waren das erst drei, dann fünf, dann 20 Kilometer im Umfeld, und mancher fragt sich sorgenvoll, wie eigentlich hierzulande Notfallpläne und Maßnahmen ablaufen würden. Sind Bund und Länder auf extreme Situationen, wie wir sie jetzt in Japan erleben, vielleicht andere, vorbereitet? Das will ich jetzt wissen im Gespräch mit Professor Edmund Lengfelder. Der Strahlenbiologe und Physiker ist Chef des Otto Hug Strahleninstitutes in München und jetzt telefonisch zugeschaltet. Ich grüße Sie!

Edmund Lengfelder: Hallo, guten Tag!

von Billerbeck: Wir haben erlebt, wie in Japan erst wenige Kilometer und dann ein immer größerer Kreis um die betroffenen Reaktoren gezogen wurde, aus dem Menschen evakuiert wurden. Nach Ihren Informationen - reichen diese 20 Kilometer aus?

Lengfelder: Nein. Ich kenne also inzwischen aus Japan schon Karten, in denen eine 30-Kilometer-Zone eingezeichnet ist, und es gibt auch Meldungen über die 30-Kilometer-Zone. Ich habe heute Morgen auch Meldungen gehört über konkrete Dosisleistungswerte, und zwar von 200 Millisievert pro Stunde im Umfeld der Anlage.

von Billerbeck: Das ist sehr viel.

Lengfelder: Wenn eine solche Dosisleistung dort herrscht, ist das extrem viel, weil das innerhalb von zwei Tagen etwa zur akuten Strahlenkrankheit führt, und das trifft ich denke in der Hauptsache die Katastrophenarbeiter, die Leute am Kraftwerk, die Feuerwehrleute. Und dort sind auch dann schon die ersten Todesfälle zu erwarten als Folge einer akuten Strahlenkrankheit.

von Billerbeck: Hätten deutsche Behörden bei solchen Werten, die Sie eben genannt haben, mehr Leute und aus einem größeren Umkreis evakuiert?

Lengfelder: Also die Katastrophenschutzpläne in Deutschland, die ich ja ziemlich genau seit mehr als 20 Jahren studiere, würden nicht zu einer besseren Reaktion im Vergleich zu Japan führen. Denn bei uns ist man so darauf fixiert, dass es bei uns nicht passieren kann, dass man sich auch nicht solide und ernst darauf vorbereitet. Und das kommt insbesondere auch dadurch zum Ausdruck, dass es für die Menschen jetzt im Umkreis von deutschen Atomkraftwerken - also nicht jetzt in der Zentralzone, aber im Umkreis - keine Jodtabletten gibt, die bei der Bevölkerung schon zu Hause sind. Sondern da sagen unsere Behörden und die Kraftwerksbetreiber, das werden wir dann verteilen, wenn der Super-GAU eingetreten ist. Das ist aber illusorisch, dann wird nichts mehr verteilt, weil dann auch die Infrastruktur nicht mehr funktioniert. Die Menschen müssten Jodtabletten, die auch nur gegen das radioaktive Jod schützen, das heißt Schilddrüsenkrebs vermeiden können, müssen sie zu Hause haben. Gegen alle anderen tumorauslösenden Wirkungen von Strahlungen gibt es keinen Schutz, außer große Entfernungen, das heißt, die Strahlung vermeiden.

von Billerbeck: Ich hab gestern mit dem Vorsitzenden der Strahlenschutzkommission gesprochen, mit Professor Rolf Michel, und der hat zum Thema genügend Jodtabletten Folgendes gesagt:

"In ganz Deutschland sind hinreichend viele Jodtabletten eingelagert. Ich kenne die genaue Zahl nicht, aber es ist genug für die gesamte Bevölkerung Deutschlands."

von Billerbeck: Ja, genug da, aber Sie sagen, die Bevölkerung kommt nicht ran.

Lengfelder: Eingelagert heißt, es ist in bestimmten Lagern. Wenn ein Super-GAU eintritt und wenn er sich auch kurzfristig ankündigen sollte, dass da ein, zwei, drei Stunden Vorlaufzeit wäre, dann ist in dieser Zeit es niemals möglich, diese Jodtabletten an den Mann zu bringen, und zwar flächendeckend im Umkreis der jeweils betroffenen Anlage. Das ist eine Illusion.

von Billerbeck: Wo liegen diese Jodtabletten denn?

Lengfelder: Wenn Sie sich bei Ihrem Landratsamt erkundigen, ich glaube nicht, dass man Ihnen das sagt. Und es ist auch nicht gedacht, dass die Bevölkerung dort hingeht, um sich zu versorgen, sondern das soll dann von dort aus zu Ausgabestellen gebracht werden. Wenn ich Sie jetzt persönlich frage, wo haben Sie Ihre Ausgabestelle - Sie wissen es sicherlich nicht.

von Billerbeck: Keine Ahnung - nein, keine Ahnung. Was sind denn die Maßnahmen, die im Fall eines Reaktorunglückes aus Ihrer Ansicht sofort ergriffen werden müssten?

Lengfelder: Also als Erstes, die Jodtabletten müssen im Umkreis von 50 Kilometer mindestens bei den Leuten sein. Wenn wir uns unser Nachbarland Österreich anschauen: Die Österreicher haben kein Atomkraftwerk, und dort wird von Staats wegen die gesamte Bevölkerung mit Jodtabletten aus Apotheken versorgt. Es kann jede Person in die nächste Apotheke gehen und sagen, hier, ich bin Österreicher, ich möchte meine Jodtabletten, und er bekommt sie gratis.

von Billerbeck: Diese Jodtabletten, so war zu hören, sind beispielsweise in Berlin schon ausverkauft. Sind das die einzigen Maßnahmen, die dann ergriffen werden, oder was passiert dann, wie bringt man die Bevölkerung in Sicherheit, wer informiert, wer ist überhaupt zuständig für diese Notfallmaßnahmen?

Lengfelder: Es gibt natürlich das Innenministerium, die haben einen Krisenstab, der dann erst zusammengerufen wird. Dann gibt es bei uns schon verteilt im Nahfeld um Atomkraftwerke Messstationen, die dann erfassen können, wie groß die Dosisleistungen zum jeweiligen Zeitpunkt sind. Aber das hat zur Voraussetzung, dass diese Informationen an die Bevölkerung gelangen. In unserer Arbeitswelt sind wir doch einem gewissen Prozess von Arbeitsabläufen unterworfen. Wer in Behörden, in Schulen, in Krankenhäusern, in Büros hat permanent das Radio laufen, um dann im Zweifelsfall innerhalb von einer Stunde zu wissen, was zu tun ist. Das ist illusorisch, auf diese Weise die Bevölkerung informieren zu wollen.

von Billerbeck: Herr Professor Lengfelder, wie ist das eigentlich mit diesen Notfallplänen, die müssten doch eigentlich offen zur Verfügung stehen, jeder müsste wissen, was er in einem solchen Fall zu tun hat, wo er hingehen muss? Man hat aber den Eindruck, die sind eher geheim?

Lengfelder: Da müssen Sie sich aber sehr Mühe geben, damit Sie Zugang zu diesen Notfallplänen haben. Und diese ganze Geheimniskrämerei, einschließlich der zentralen Lagerung der Jodtabletten, die auch nur gegen Schilddrüsenkrebs, aber nicht gegen all die anderen Krebse helfen, diese Geheimniskrämerei soll nach der Strategie unserer Kraftwerksbetreiber und unserer Politik eine Beunruhigung in der Bevölkerung vermeiden helfen und insbesondere den Schluss vermeiden helfen, aha, ich hab Jodtabletten bekommen, die rechnen ja selber mit so einem Unfall. Und dass man das aber nicht tut, zeigt eigentlich in meinem Augen die Verantwortungslosigkeit. Ich hab heute im Radio den Umweltminister Röttgen den Satz aussprechen hören: Jetzt müssen wir all unsere Verantwortung zusammenkratzen, um das Problem zu lösen. Wenn ich etwas zusammenkratze, ist nicht mehr viel davon da. Ich denke, da hat das Unterbewusstsein dem Herrn Röttgen einen Streich gespielt.

von Billerbeck: Herr Professor Lengfelder, Sie befassen sich ja schon lange mit der Atomkraft, haben auch die Folgen des Reaktorunglücks von Tschernobyl beobachtet. Wie kann das sein, dass 25 Jahre nach Tschernobyl es noch immer so ist, dass diese Notfallpläne inklusive Jodtabletten inklusive der Zusammenführung der Verantwortlichen, die da handeln müssen, nicht gegeben ist?

Lengfelder: Das ist einfach die Strategie der Desinformation der Öffentlichkeit, um dort einen Widerstand im Keim zu ersticken. Wenn - und das ist fast eine Werbestrategie, dass man die Informationen, die eigentlich benötigt wären bei der Bevölkerung, um eine sachliche, im Interesse der Einzelnen der Bevölkerung richtige Entscheidung zu fällen, wenn diese Entscheidung aber verhindert wird durch Nichtinformation. Das ist für mich auch ein grober Verstoß gegen jede demokratische Kultur.

von Billerbeck: Was fordern Sie als Strahlenbiologe und Chef Ihres Strahleninstituts in München?

Lengfelder: Ich fordere klar, dass die Politik so vertrauenswürdig agiert, also die Bevölkerung informiert - so was kann passieren. Für diesen Notfall haben Sie Ihre Jodtabletten zu Hause, haben Sie auch ein Kofferradio oder ein kleines Batterieradio zu Hause, damit Sie über Rundfunk erreichbar sind. Wenn man dies in dieser Form thematisiert hätte, dann würde die Bevölkerung viel eher bereit sein, den Politikern zu glauben, wenn sie was sagen, dass es zweckmäßig ist, das zu befolgen. So wie es bisher gelaufen ist - bis vor drei Tagen waren alle deutschen Atomkraftwerke sicher, und dann passiert in Japan etwas, und auf einen Schlag wird überlegt, ob man die sieben unsichersten Kraftwerke stilllegt -, das ist doch eine Lachnummer. Oder ein Beweis für die Unzuverlässigkeit und die mangelnde Vertrauenswürdigkeit in der Politik.

von Billerbeck: Das sagt Professor Edmund Lengfelder, Chef des Otto-Hug-Strahleninstituts aus München. Herzlichen Dank für Ihre Auskünfte!