Stimmen für Europa: Steinunn Sigurdardottir

"Mein Europa ist Poesie"

03:40 Minuten
Die Autorin Sigurdardottir Steinunn sitzt auf einem blauen Sofa vor einem Regal mit roten und blauen Büchern.
"Nach Lemberg fahren": Steinunn Sigurdardottir. © picture alliance / dpa / Arno Burgi
15.05.2019
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Mein Europa ist das Land der Dichtung und der wundersam verschiedenen Mentalitäten - die man am besten durch Poesie entdecken kann, schreibt die isländische Autorin Steinunn Sigurdardottir. Sie verrät ihre literarischen Vorbilder.
Mein Europa ist nicht eine Stadt, ein Land, eine Ecke, zwei Ecken ...
Mein Europa ist das Land der Dichtung, das Land der wundersam verschiedenen Mentalitäten - die man am besten durch Poesie entdecken kann.
Mein Europa ist dann die polnische Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska. Ihre erfinderische Mischung aus Ironie, Wärme, Kälte ... und so GANZ anders als alles, was man in Skandinavien, England, Island, Italien dichten könnte.
Mein Europa ist Alda Merini. Und vor allem, wenn ihre italienischen Gedichte in eine verständliche Sprache übersetzt worden sind, zum Beispiel ins Schwedische, von John Swedenmark ... Nach wie vor haben wir Dichter, wir Leser, den Übersetzern zu danken und zu danken ...
Mein Europa ist Inger Christensen. "Alfabet". Der legendäre Auftakt: "abrikostræerne findes, abrikostræerne findes" - das heißt: die Aprikosenbäume gibt es. Und Inger Christensen hat ihre nicht so offensichtlich schöne dänische Sprache in eine magisch klingende Sprache verwandelt.
Mein Europa ist die finnisch-schwedische Poesie. Die Poesie der sprachlichen Minderheit in Finnland - heute vor allem von Tua Forsström repräsentiert. Die urwichtige Vorgängerin aber, Edith Södergran, mit 31 Jahren gestorben, 1923, hat die Dichtung Skandinaviens revolutioniert. Eine Frau der Sprachen - hat an einem deutschen Gymnasium in St. Petersburg studiert, hat ihre 200 ersten Gedichte auf Deutsch verfasst - und war von der russischen Sprache, von russischen Modernisten sehr beeinflusst.
Mein Europa ist das monumental wichtige Gedicht, "Nach Lemberg fahren", die Stimme des polnischen Dichters Adam Zagajewski:
"Nach Lemberg fahren. Von welchem Bahnhof
nach Lemberg, wenn nicht im Traum, bei Tagesanbruch,
wenn Tau die Koffer bedeckt und Schnellzüge und Torpedos
eben geboren werden. Plötzlich nach Lemberg
fahren, um Mitternacht, tags, im September
oder im März."
So klingt der Anfang. Nach einer Stadt fahren - die zu Polen, Österreich-Ungarn, Polen, Sowjetunion, Ukraine gehört hat ... Mit unsäglichen Konsequenzen für die Bewohner, Opfer von Gewalt und Willkür ...
Nach Lemberg fahren, der Verlust einer herrlichen europäischen Stadt, die nun nur in der Herrlichkeit der Poesie existiert.

Anlässlich der Europawahl am 26. Mail 2019 haben wir Schriftstellerinnen in der Reihe "Stimmen für Europa" gefragt: Was bedeutet Ihnen Europa? Was gilt es zu schützen und was zu kritisieren? Dabei sind literarische Texte entstanden, die verschiedene kulturelle und sprachliche Hintergründe haben.

1950 in Island geboren, schloss Steinunn Sigurðardóttir ihre akademische Ausbildung 1972 mit einem BA in Psychologie und Philosophie am University College in Dublin ab. Bis in die 1980er-Jahre hinein arbeitete sie hauptsächlich als Radio- und TV-Journalistin. Als Schriftstellerin trat Steinunn Sigurðardóttir zunächst mit Gedichten und Kurzgeschichten in Erscheinung. 1995 erhielt sie den Isländischen Literaturpreis für ihren Roman "Herzort". Auch ihr Roman "Der Zeitdieb" wurde ein großer Erfolg.


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