Klischees im Musiktheater

Sadistische Türken, finstere Mohren, leidende Frauen

Der Schauspieler Erol Sander in der Rolle des Bassa Selim in Mozarts "Entführung aus dem Serail" bei der Probe in der Semperoper in Dresden; Aufnahme vom 11. April 2017
Der Schauspieler Erol Sander in der Rolle des Bassa Selim in Mozarts "Entführung aus dem Serail" bei der Probe in der Semperoper in Dresden; Aufnahme vom 11. April 2017 © picture alliance / Arno Burgi/dpa-Zentralbild/dpa
Von Stefan Keim · 20.10.2018
Das Repertoire der Musiktheater wimmelt von rassistischen und sexistischen Klischees. Wer einen Spielplan auf der Höhe des Diskurses fordert, müsste einen großen Teil davon für unspielbar erklären. Doch gute Regisseure retten solche Opern, meint der Theaterkritiker Stefan Keim.
Osmin ist Wächter im Harem seines Chefs Bassa Selim. Ein blutrünstiger, grausamer Mann, der sich von einer jungen Dame namens Blonde zum Saufen verführen lässt und dann zum trotteligen Tanzbär wird. Mozarts Singspiel "Die Entführung aus dem Serail" wird zu Recht gerühmt, weil mit Bassa Selim ein aufgeklärter Herrscher im Mittelpunkt steht, der am Schluss den geraubten Frauen die Freiheit schenkt. Doch Osmin ist eine Figur, in der sich die Ressentiments der Wiener gegen die Türken am Ende des 18. Jahrhundert spiegeln. Die Belagerungen der Stadt durch das Osmanische Reich waren noch im kollektiven Bewusstsein.
Für viele problematische Figuren in populären Opern gibt es historische Erklärungen. Das Wissen um fremde Kulturen war weit vor dem Online-Zeitalter in großen Teilen der Bevölkerung nicht besonders groß. Und viele Librettisten lieferten ohnehin nur Handlungsgerüste für möglichst effektvolle Arien, ohne auch nur einen Gedanken an gesellschaftliche Hintergründe zu verschwenden. Deshalb wimmeln die Stücke, deren Musik bis heute viele Menschen begeistert, von verbrecherischen Mohren oder Zigeunerinnen, die Kinder rauben und ins Feuer werfen. Wie Azucena in Giuseppe Verdis "Trovatore".

Immer wieder erotische Männerfantasien

Ähnlich finster sieht es in den meisten Opern mit den Frauen aus. Mozart zeigte in "Cosi fan tutte" die Geschlechter noch auf Augenhöhe, doch das ging im 19. Jahrhundert weitgehend verloren. Die meisten Damen haben nicht mehr zu tun, als sich sopransüß leidend nach Männern zu verzehren und – wenn die Hindernisse für die Liebe zu groß sind – an Schwindsucht dahin zu siechen oder wahnsinnig zu werden. Die tieferen Stimmlagen üben sich meist in der Kunst des Intrigierens und Vergiftens. Im "Fliegenden Holländer" von Richard Wagner opfert sich Kaufmannstochter Senta, um den gespenstischen Titelhelden zu erlösen. Die Geschichte der Oper ist in weiten Teilen eine Geschichte erotischer Männerfantasien.
Wer im Musiktheater einen Spielplan auf der Höhe des Diskurses fordert, müsste einen großen Teil des Repertoires für unspielbar erklären. Doch das ist nicht nötig, denn es gibt ja Regisseure, die schwierige Stücke neu befragen und respektvoll inszenieren können. Dass Neudeutungen immer noch auf grundsätzliche Proteste konservativer Opernfans stoßen, ist absurd. Denn gute Regisseure retten die Opern und machen sie überhaupt wieder spielbar. Ästhetisch und inhaltlich hat das Musiktheater in den vergangenen Jahrzehnten viel aufgeholt im Vergleich zum Sprechtheater.

Operette und Musical: altbacken und chauvinistisch

Doch manche Debatten, die im Schauspiel längst geführt wurden, haben das deutsche Musiktheater bisher nur ansatzweise erreicht. Dazu gehören die Fragen nach rassistischen und sexistischen Inhalten. Vielleicht fehlt der Druck des Publikums, denn viele Fans sind zufrieden, wenn sie in der Oper schöne Musik geboten bekommen und die Inszenierung den Genuss nicht stört. Musiktheater auf der Höhe der Zeit zu machen bedeutet viel Vermittlungsarbeit. Gerade die unterhaltenden Formen – die Operette und auch das Musical – kommen oft besonders altbacken und chauvinistisch daher. Wahrscheinlich weil die Theater hier den ökonomischen Erfolg suchen, ohne ihr Publikum verstören zu wollen.
Doch dieses Denken ist fatal, denn eben durch diese populären Stücke erreichen die Bühnen Menschen, die nicht zum intellektuellen Kreis der Eingeweihten gehören. Gerade Operetten und Musicals sollten mit politischem Feingefühl inszeniert werden, was dem satirischen Witz keinesfalls im Wege steht. Nur dem platten Klamauk. Und auf den können wir verzichten, vor allem wenn er auf rassistischen und sexistischen Vorurteilen basiert.
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