Stichwahl um Präsidentenamt

Wohin geht die Republik Moldau?

Wachmänner stehen vor dem Parlament in Chisinau, der Hauptstadt der ehemaligen Sowjetrepublik Moldau. Im Vordergrund ein in Stein gehauener Schriftzug Moldova, der teils von Schnee bedeckt ist.
Das Parlament in Chisinau, der Hauptstadt der ehemaligen Sowjetrepublik Moldau. © dpa/picture-alliance/Dumitru Doru
Von Michael Groth · 10.11.2016
Die Republik Moldau ist das ärmste Land Europas. Korruption durchzieht alle Bereiche der Gesellschaft. Am 13. November entscheiden die Bürger, wer das Präsidentenamt übernimmt: Putinfreund Igor Dodon oder die Europafreundin Maia Sandu - eine Richtungsentscheidung.
Ivan Pilkin ist Lektor an der Universität von Chisinau:
"Die Menschen sind enttäuscht. 2009 übernahm eine pro-europäische Koalition die Regierung. Aber die Konflikte und Skandale hielten an. Inzwischen werden auch diese Politiker als Leute betrachtet, die nur in die eigene Tasche wirtschaften."
Seit 2007 flossen bis heute EU-Mittel in Höhe von rund 782 Millionen Euro nach Moldau. 2009 übernahm eine europafreundliche Regierung die Macht. 2014 wurde zwischen der früheren Sowjetrepublik und der EU ein Assoziierungsabkommen geschlossen.

Misstrauen in Politik und Justiz

Europabegeisterung hat dies nicht bewirkt. Ganz im Gegenteil: Die staatstragenden Eliten werden mit einem Kriminalfall verbunden, der seinesgleichen sucht. Eine Milliarde Euro wurde verschoben. Immerhin 15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Bis heute weiß niemand, wo das Geld steckt.
"Die Geschichte begann schon vor mehr als zehn Jahren. Die moldauische Sparkasse hat seit 2005 faule Kredite vergeben. Von diesem Betrug haben sehr viele profitiert – aus unterschiedlichen Parteien."
Sagt Iulian Rusu vom Institut für europäische Politik und Reformen, einer NGO in Chisinau. Der Jurist hat in Oxford studiert. Er zieht es, im Gegensatz zu vielen Landsleuten, vor, in Chisinau für die Zukunft seiner Heimat zu arbeiten.
Es gibt Vermutungen, woher die Täter kommen, es gibt sogar Anklagen und Urteile. Immer wieder wandern auch Politiker ins Gefängnis, unter anderem ein ehemaliger Ministerpräsident. Indes sei, so Rusu, auch den Richtern nicht zu trauen.
"Die wichtigsten Fälle werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt. Im Oktober vergangenen Jahres wurde der Vorsitzende einer Partei zu einer Haftstrafe verurteilt, ohne dass man erfuhr, worum es ging. Unabhängig davon, ob der Mann sich etwas zuschulden kommen ließ – hier wurde eine Grenze überschritten, die es für eine unabhängige Justiz nicht geben sollte."
Auf den Straßen der Hauptstadt herrscht dichter Verkehr. Alte Modelle sowjetischer Bauart, gebrauchte westliche Kleinwagen, aber auch neue Sportlimousinen, gern mit getönten Scheiben: Der Verkehr als Spiegel der Gesellschaft.

Illegale Parteienfinanzierung

Einige Elektronikkonzerne und Banken haben in Chisinau moderne Glaspaläste errichtet . Im übrigen spielt sich das Leben – auch die Geschäfte - weitgehend auf den Straßen ab. Fliegende Verkäufer an fast jeder Ecke – von der Steckrübe bis zum Kinderspielzeug oder zu modischen Accessoires ist hier alles zu haben. Wenn man es sich den leisten kann.
Moldau ist das ärmste Land Europas. Das durchschnittliche Monatsgehalt liegt bei 220 Euro. Korruption gehört zum Alltag. Das gilt auch für die Politik.
"Niemand weiß, wie die politischen Parteien finanziert werden. Vieles deutet darauf hin, dass sie ihr Geld über Scheinfirmen erhalten. Das wiederum bedeutet, dass die Parteien von Geschäftsleuten abhängig sind. Meist läuft das über persönliche Kontakte. Die Parteiführer und die Oligarchen sind befreundet. Dies geschieht vor allem zur Wahrung und Erweiterung der Besitzstände – anders ist dies in einem Land, in dem das Rechtssystem nicht funktioniert, kaum möglich."
Hinter kaum vorgehaltener Hand spricht in Moldau jeder von "Mister P.". Das ist Vlad Plahotniuc, Oligarch, Besitzer mehrerer Fernsehkanäle und Nachrichtenportale sowie etlicher Werbefirmen. Um nur von seinen legalen Aktivitäten zu sprechen. Wie es heißt, kontrolliert Plahotniuc auch staatliche Institutionen, zum Beispiel die Generalstaatsanwaltschaft und, kein Scherz, das Nationale Anti-Korruptionszentrum.
In der "Demokratischen Partei", die derzeit den Regierungschef stellt, ist Plahotniuc eine entscheidende Figur. Die Partei hat sich den Beitritt zur EU auf die Fahne geschrieben – dem Oligarchen und seinen Vertrauten öffnen sich so in Brüssel und in Washington Türen. Bei der Bevölkerung mache dies wenig Eindruck sagt Iulian Rusu:
"Die Leute halten die Annäherung an die Europäische Union mittlerweile für einen Trick der Eliten, sich weiter auf Kosten der Bevölkerung zu bereichern. Und die Eliten bestätigen dieses Urteil. Die umfassende Korruption ist kein Geheimnis – bis zu Verbindungen führender Politiker zur kriminellen Szene. Dass der Westen auf rund siebzig Jahre friedlicher Entwicklung blickt, während das russische Einflussgebiet immer wieder von gewaltsamen Auseinandersetzungen geprägt wurde – bis zum jüngsten Konflikt in der Ukraine – das spielt kaum eine Rolle. Obwohl niemand weiß, wie Putins Euro-Asiatische Union funktionieren soll, wird die Idee von vielen Moldauern unterstützt."

50 Prozent tendieren nach Osten, 50 nach Westen

So ziemlich genau von der Hälfte der Bevölkerung. Gefragt, ob sie ihre Zukunft eher in Brüssel oder eher in Moskau sehen, tendieren rund 50 Prozent gen Westen und rund 50 Prozent gen Osten.

Im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl am 30. Oktober erhielt Igor Dodon die meisten Stimmen, der Chef der pro-russischen Sozialisten. Sollte er sich am Sonntag in der Stichwahl gegen die europafreundliche Zweitplatzierte Maia Sandu durchsetzen, wäre dies ein Zeichen.
"Es bleibt nicht viel Zeit. In den kommenden Jahren müssen wir entscheiden, wohin unser Weg führt. Wenn wir unser Land nicht demokratisieren und die Korruption bekämpfen, wird in Europa bald niemand mehr von der Republik Moldau sprechen. Aber wir brauchen Hilfe: die EU und die Vereinigten Staaten sollten die Kräfte unterstützen, die hier etwas verändern wollen."

Jede Woche verliert Moldau 100 – meist junge – Menschen. Ein Viertel der 3,5 Millionen Einwohner lebt im Ausland. Etwa die Hälfte verdient ihr Geld in Russland oder in ehemaligen Sowjetrepubliken, im Handwerk oder auf dem Bau. Die andere, besser ausgebildete Hälfte zieht es in den Westen. Wer will, kann in Moldau einen rumänischen Pass bekommen – mit dem Dokument des EU-Mitglieds Rumänien ist eine Einreise kein Problem.
Ion Ranga kommt verspätet zu unserer Verabredung. Der 24-jährige Vorsitzende einer politischen Jugendorganisation engagierte sich im Wahlkampf – obwohl seine Partei nicht die Spur einer Chance hatte, den neuen Präsidenten zu stellen. Die Bar des westlichen Standards entsprechenden Hotels in Chisinau bietet eine willkommene Ruhepause. Ranga studierte in Rumänien, auch er kehrte zurück – voller Enthusiasmus, der von seinen Altersgenossen allerdings nicht geteilt wird.
"Die jungen Menschen sind enttäuscht. Nach der Unabhängigkeit gab es Versprechen, aber die Politiker hielten sie nicht. Unserem Nachbarn Rumänien geht es besser als uns. Nun nutzen wir die Visafreiheit um unser Glück andernorts zu suchen. Überall ist es besser als hier, sagen die Jungen – sogar in den post-sowjetischen Ländern. Und wem geben sie die Schuld? Natürlich den Politikern. Da darf man sich nicht wundern, dass es kaum politisches Engagement gibt.
Wir brauchen Vorbilder. Ehrliche Leute. Leute, auf die man auch im Ausland stolz sein kann. Nur dann gibt es Hoffnung. Aber auch diese Hoffnungsträger müssen Ergebnisse liefern. Die Gehälter müssen steigen, die Straßen müssen repariert werden, die Infrastruktur muss insgesamt verbessert werden, Investitionen müssen ins Land. Die Leute wissen, was geschehen muss. Auf die kontrollierten Medien ist niemand angewiesen. Das Internet ist unter jungen Leuten weit verbreitet. Sie beobachten, was anderswo passiert."
Ein Wahlplakt mit dem Präsidentschaftskandiaten Dodon in der ehemaligen Sowjetrepublik Moldau.
Ein Wahlplakt mit dem Präsidentschaftskandiaten Dodon in der ehemaligen Sowjetrepublik Moldau.© dpa/picture-alliance/Dumitru Doru

Ausgewanderte als Vorbilder

In Moldau gibt es weder genug Mediziner noch genug Lehrer, vor allem auf dem Land. Viele junge Leute kehren nach einem Auslandsstudium nicht zurück. Daniel Voda, ist Mitte Zwanzig, er arbeitet im Außenministerium. Er erkennt in der Migration seiner Landsleute nach Westen auch Positives.
"Sie leben dort in einer Wertegemeinschaft, zu der wir auch gehören sollten. Diese Leute sind wie Schwämme, die die westlichen Werte aufsaugen. Das kommt uns hier zugute. Wer im Ausland Erfolg hat, und dann zurückkehrt, der dient als Vorbild. Es gibt inzwischen ein Netzwerk der Auslandsmoldauer, das eine politische Agenda hat. Es wäre gut, wenn die hiesigen Parteien die Diaspora in ihre Pläne einbeziehen würden. Die Leute schicken nicht nur Geld, sie haben beeinflussen ihren Familien und ihre Freunde, und sie könnten das Land Schritt für Schritt auf den richtigen Weg lenken."
Als ob dies alles nicht genug wäre: In Moldau brennt ein Herd, der den Ostrand Europas noch einmal in Flammen versetzen könnte. Nach dem Ende der Sowjetunion erklärte sich der östliche Teil der jungen Republik Moldau für unabhängig. Es kam zu einem Krieg, der mehr als 1000 Menschen das Leben kostete. Seither nennt sich der weitaus kleinere Landesteil jenseits des Dnestr Transnistrien. Von keinem Staat der Welt anerkannt – nicht einmal von Moskau – ist Transistrien eine von Russland gern genutzte Plattform wirtschaftlicher und militärischer Interessen. Das Gebiet gilt als zentrale Kreuzung asiatisch-europäischer Schmuggelpfade, und es ermöglicht Putin eine militärische Präsenz, mit der er die Ukraine, den östlichen Nachbarn Moldaus, in den Schwitzkasten nehmen kann.
Maia Sandu, Vorsitzende der ASP und Präsidentschaftskandidatin 2016, äußert gibt Interviews nach dem ersten Wahlgang.
Maia Sandu, Vorsitzende der ASP und Präsidentschaftskandidatin 2016© picture alliance / dpa / Dumitru Doru

Präsident soll Glauben in Politik wieder beleben

Für die Vertreter einer Annäherung an den Westen könnte der Transnistrienkonflikt hilfreich sein. Brüssel kann sich angesichts der unklaren Lage in der Ukraine keinen weiteren Verlust eines möglichen Verbündeten an seiner Ostgrenze leisten. Und die Amerikaner wissen den Flughafen von Chisinau gewiss als potenzielle Basis zu schätzen.
Für Daniel Voda kann Stabilität nur auf dem Weg nach Europa erreicht werden.
"Ich bin 1991 geboren, im Jahr der Unabhängigkeit. Ich kenne die Sowjetrepublik nicht, ich kenne nur das demokratische Moldau. Ich bin mit westlichen Werten aufgewachsen. Meine Generation rückt langsam auf politische Schlüsselstellungen. Wir sollten das Land in die europäische Familie führen."
Maia Sandu und Igor Dodon im Fernseh-Streitgespräch. Der sozialistische Putinfreund Dodon erhielt im ersten Gang der Präsidentschaftswahl 48 Prozent. Die Zweite, Maia Sandu, eine ehemalige Bildungsministerin, hat in Harvard studiert und gute Kontakte zum Westen. Auch wenn der Präsident in Moldau – ähnlich dem Bundespräsidenten – eine weitgehend repräsentative Rolle spielt, darf man am Sonntag von einer Richtungsentscheidung sprechen. Das Land, sagt der Lektor Ivan Pilkin, brauche eine Geschichte, die den Glauben an die Handlungsfähigkeit der Politik wieder belebt.
"Der neue Präsident könnte eine Botschaft verbreiten. Er könnte die Moldauer auffordern, der Demokratie treu zu bleiben, und so Verantwortung für die Zukunft des Landes zu übernehmen."
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