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Kamel Daoud: "Zabor"
Schreiben gegen die Hoffnungslosigkeit

Mit der Kraft des Wortes gegen den Aberglauben: Kamel Daoud erzählt von einem Jungen, der mit Hilfe von Büchern aus einer archaischen Welt zu fliehen versucht. Der algerische Autor kritisiert einmal mehr die Unterdrückung der Frau, religiösen Fundamentalismus und politische Unfreiheit in islamischen Ländern.

Von Dirk Fuhrig | 17.06.2019
Zu sehen ist der Autor Kamel Daoud und das Cover seines Romans "Zabor".
Wortmächtiger Streiter gegen fundamentalistische islamische Tendenzen - der algerische Autor Kamel Daoud (Autorenfoto: Claude Truong-Ngoc/ Buchcover: Verlag Kiepenheuer & Witsch )
Ismaël wächst in einem abgeschiedenen Dorf am Rande der Sahara auf. Der Sohn des Fleischers ist kränklich und fällt durch seine unangenehme "Ziegenstimme" auf. Er ist ein Ausgestoßener - der dadurch zu einem scharfen Beobachter der Erwachsenen wird:
"Zu gewissen Zeiten meiner Jugend konnte ich nicht das geringste Wort aus dem Mund meiner Nächsten ertragen, das Geseufze, den Bericht von ihren Pilgerreisen, ihren Orgasmen und den Löhnen, die der Staat ihnen zahlte. Alles war unausstehlich, klein und rief meinen Spott hervor. Aus Verdruss wurde ich zum Spötter."
… zum Hofnarren, zu einem Oskar Matzerath der algerischen Wüste. Ismaël wird bei seinem Spitznamen "Zabor" gerufen, was auf Arabisch "Psalm" bedeutet. Der der Junge ist ungewöhnlich klug, hochbegabt. Jeden Text, den er zu fassen bekommt, verschlingt er.
"Der wirkliche Sinn der Welt lag in den Büchern, und die Sprache (…) entbot mir davon das Wesentliche. Alles sollte dort vorkommen. Alles sollte erfasst werden, inventarisiert, klassifiziert, bezeichnet und benannt werden, um nicht unterzugehen. (…) Und wer muss die Welt vor der Auslöschung bewahren? Sicherlich nicht derjenige, der das Heilige Buch rezitiert, sondern vielmehr derjenige, der unaufhörlich schreibt (…). Dazu war ich als Einziger fähig."
Eine Welt außerhalb des dörflichen Radius
In seiner bildungsfernen, archaischen Umgebung fängt Zabor heimlich an zu schreiben. Ohne Unterlass füllt er kleine Hefte. So wie Scheherazade in den Erzählungen aus 1001 Nacht, setzt er die Literatur gegen den Tod ein: Schwerkranken, denen er vorliest, verlängert er damit das Leben.
Lesen und Schreiben eröffnen dem Jungen eine Welt außerhalb des von traditionellen Riten, Glauben und Aberglauben geprägten dörflichen Radius. Als 13-Jähriger entdeckt er in einer Abstellkammer einen Packen Bücher, gedruckt auf Französisch, der Sprache der einstigen Kolonialmacht.
"Robinson Crusoe ist das faszinierendste aller Bücher, die ich gefunden habe. Ich mochte diese Geschichte schon vor langer Zeit und sie hat für mich seitdem den Rang eines heiligen Buches bekommen."
Schreiben, lesen – Sprache ist Leben. Mittels der Lektüre wird sich der Junge auch seiner Körperlichkeit bewusst. Die Abbildung einer Frau auf einem Umschlag regt ihn zur Selbstbefriedigung an, er entdeckt seine Sexualität. Die er aber eben nicht in die konventionelle Form einer arrangierten Ehe münden lässt. Bei ihm wird der Eros sublimiert durch Schreiben.
"Ich bin fast dreißig Jahre alt, Junggeselle und noch Jungfrau, aber ich habe triumphiert über das Schicksal von Leuten wie mir an solch lächerlichen Orten. Ich bin als einziger davongekommen, o ja. Natürlich habe ich für zwei oder drei junge Frauen so etwas wie Liebe empfunden. (…) Aber meine Sexualität mausert sich langsam zu einer größeren Pflichtübung als nur dazu, der Fortpflanzung zu dienen. Wegen meines Körpers oder meines Rufes habe ich niemals die Gelegenheit gehabt, in diesem so kleinen Dorf meine Bedürfnisse zu befriedigen, und mein sexuelles Verlangen hat schon seit Langem das Ansinnen überwunden, in einem anderen Körper wieder aufzuleben."
Gegen Männlichkeitskult und Frauenunterdrückung
Für den Schriftsteller und Journalisten Kamel Daoud ist das Verhältnis der Algerier - und eines Großteils der arabischen Welt - zum Körper ein entscheidendes Element der Unfreiheit. Die aus dem Islam abgeleiteten Vorschriften zum Umgang der Geschlechter miteinander sind aus seiner Sicht die Hauptursache des Männlichkeitskults und der Unterdrückung der Frauen.
"Sex war ein halbes Mysterium in diesem Alter, denn die Kinder gingen brutal und verschlagen miteinander um: Beleidigung, Aggression, Hierarchie und auch das Geheimnis, alles war immer sexuell. Das Nichtstun brachte die Kinder schon sehr früh dazu, ihre Penisse zu vergleichen, ihre Männlichkeit an der Länge ihres Harnstrahl im Sand zu messen, von Sodomie zu reden oder die Schwächsten körperlich anzugehen, indem man die Sodomie imitierte."
In diesem Roman feiert Kamel Daoud die Literatur als Retterin aus dem Gefängnis der Traditionen und Konventionen. Der Autor wird von manchen seiner Landsleute auch deshalb angefeindet, weil er auf Französisch schreibt - der Sprache der einstigen Kolonialmacht. In "Zabor" ist es aber gerade die französische Sprache, die dem ausgegrenzten Jungen den Zugang zu Bildung, zu Reflexion, zu freiem Denken ermöglicht.
Man kann man in der Figur "Zabor" viele Züge des Autors Kamel Daoud entdecken. Zumal Daoud die arabische Form des Namens "David" ist, dem König der Israeliten, der nach der Überlieferung die gleichnamigen Psalmen verfasste. Kamel Daoud ist nicht nur ein wortmächtiger Streiter gegen fundamentalistische islamische Tendenzen in seinem Heimatland. Er fordert eine Bildungsinitiative für die Länder des Maghrebs und setzt sich für die Förderung des kulturellen Austauschs mit Europa ein. Dazu zählen für ihn gerade auch Übersetzungen aus dem Arabischen ins Französische und andere Sprachen, um das gegenseitige Verständnis zu fördern.
"Schreiben ist die einzige wirksame List gegen den Tod. Die Leute haben es mit dem Beten, den Medikamenten, der Magie, den Versen in endlosen Schleifen oder mit Bewegungslosigkeit versucht, aber ich bin wohl der Einzige, der die Lösung gefunden hat: Schreiben."
Texte gegen die Hoffnungslosigkeit
Ähnlich wie für seinen Protagonisten Zabor, ist für Kamel Daoud das Verfassen von Texten ein Mittel gegen die Hoffnungslosigkeit: gegen die politische Unfreiheit und die Macht der Religion - die in diesem Roman eine wichtige Rolle einnimmt. Im französischen Original heißt das Buch "Zabor ou Les Psaumes", also "Zabor oder Die Psalmen". Darin klingt genauer als in der deutschen Ausgabe der Bezug zum Alten Testament an. Im gemeinsamen Buch der drei abrahamitischen Religionen verstößt Abraham seinen Sohn Ismael, der den Islam gründen wird - ebenso verbannt in diesem Roman der Vater seinen Sohn, der ja auch Ismaël heißt.
"Zabor" ist kein straff konturiertes Buch. Der Text ist verschlungen, oft repetitiv. Neben die Ebene des Ich-Erzählers sind kursive Einschübe aus Zabors Schreibheften gesetzt. Insgesamt entfaltet sich ein assoziativer Kosmos, der den Leser in die Welt des einsamen Sprachfanatikers Zabor hineinzieht.
Dass Kamel Daoud einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller aus Nordafrika ist, beweist er mit diesem Roman erneut: Er ist eine Hymne auf die Macht der Sprache, eine fesselnde Parabel über das Verhältnis von Wissen und Glauben, von Tradition und Moderne. Und eine Liebeserklärung an die Figur des hellsichtigen Außenseiters. Ein brillanter Bildungs-Roman - im Wortsinn.
Kamel Daoud: "Zabor"
Aus dem Französischen von Claus Josten
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. 384 Seiten, 23 Euro.