Sternekoch Tim Raue

    "Ich war der Meister des Rühreis"

    Der Berliner Sternekoch Tim Raue in einer Szene aus dem Dokumentarfilm "Chef's Table".
    Der Berliner Sternekoch Tim Raue in einer Szene aus dem Dokumentarfilm "Chef's Table". © Netflix
    Tim Raue im Gespräch mit Sandra Ketterer · 16.02.2017
    Der Berliner Sternekoch Tim Raue weiß, wie man sich in Szene setzt. Auf der Berlinale hat eine neue Dokumentation über ihn Premiere. Im Interview erzählt er, wie ihn eine Stoffdecke zu einem Dessert inspiriert hat. Und wie schwierig das perfekte Rührei ist.
    Deutschlandradio Kultur: Herr Raue, Koch sein – gerade auf Sterne-Niveau – bedeutet auch, zwingend kreativ sein zu müssen. Wo holen Sie sich Ihre Inspirationen für neue Gerichte?
    Raue: Ich piesacke mich immer wieder mit Reizen, vor allem mit visuellen Reizen. Ich bin bestimmt dreimal die Woche im KaDeWe, alles was ich sehe, nehme ich auf. Das kann eine Form sein, das kann eine Farbe sein. Ich habe zum Beispiel seit vier Wochen verzweifelt nach einer Idee für ein neues Dessert gesucht. Dann bin ich da die Rolltreppe hochgefahren und sehe eine gelbe Decke. Die hatte ein Waffelmuster. Das hat mich sofort an Ananas erinnert: Wenn die ganz reif ist und man die Schale nicht perfekt abschneidet, dann sind da noch so braune Zutzeln dran. Beim Hochfahren vom zweiten in den fünften Stock hatte ich diese Ananas im Kopf und habe gedacht, was können wir aus der Ananas machen und bin dann auf Ananasrollen gekommen. Fünf Ananasröllchen und die füllen wir dann, einmal mit einem Sorbet, einmal mit einem Parfait, einmal mit einem Salat, so dass man nur fünf Rollen vor sich sieht und keine Ahnung hat, was drin ist und dann so eine kleine Ananasreise beginnt. Das ist Glück!

    "Essen war für mich früh auch eine Flucht"

    Deutschlandradio Kultur: Wie lange dauert es dann, bis Sie das Gericht Ihren Gästen servieren?
    Raue: Im Schnitt sechs bis acht Wochen. Ich habe das erstmal nur im Kopf. Dann geht es in den Mittagsservice, zu den Stammgästen, die kriegen das aufs Haus, zum Probieren. Dann gibt es ein Feedback. Das ist immer interessant. Wenn von zehn Leuten fünf sagen, das ist zu scharf, dann kann man davon ausgehen, es ist zu scharf. Ob ich das gut finde oder nicht, ist dann wurscht. Und dann bastele ich so lange an dem Gericht, bis ich wirklich glücklich bin und das Gefühl habe, dass es an der Grenze der aromatischen Provokation ist, aber noch Spaß macht.
    Deutschlandradio Kultur: Sie stammen weder aus einer Gastronomiefamilie noch hat sich jemand in Ihrer Kindheit besonders um Ihre Ernährung gekümmert. Wie haben Sie zum Kochen gefunden?
    Raue: Meine erste Stiefmutter war nicht bereit für mich zu kochen. Ich musste mich also, seit ich neun Jahre alt bin, selbst ernähren. Das bedeutete vor allem, dass ich Eierspeisen in wirklich unzähligen Varianten ausprobiert habe. Ich war der Meister des Rühreis und des Spiegeleis. Ich war extrem kreativ, aber ich hatte natürlich überhaupt keine Ahnung vom Kochen. Essen war für mich früh auch eine Flucht aus der nicht so einfachen Zeit meiner Kindheit und meiner Jugend. Ich habe total gerne gegessen. Irgendwann hat mich das leider fett gemacht. Damit kann ich aber mittlerweile gut leben.

    "Wir gehen auch ins Schlachthaus und bringen ein Kalb um"

    Deutschlandradio Kultur: Stimmt es eigentlich, dass man einen guten Koch an einem Rührei erkennt?

    Raue: Ein Rührei großartig zu machen, ist tatsächlich eine Herausforderung. Es gibt zwei Varianten, mit denen man jemanden beeindrucken kann. Nämlich Schlagsahne oder geschlagenes Eiweiß drunter geben. Und jetzt kommt das Aber: Dann servieren Sie das jemandem, der von seiner Mami oder seiner Oma immer ein ganz mieses oder durchgegartes batziges Rührei gekriegt hat und der kann damit gar nichts anfangen, weil in seiner Erinnerung ist das etwas anderes. Er kann eventuell durch die Aromen und den Schmelz und das Zusammenspiel begreifen, dass das was wird. Aber ich kann mich daran erinnern, dass ich schon Rührei für Menschen gemacht habe und gedacht habe, dass das ganz toll ist und dann hieß es, das ist zu weich und zu flabberig.
    Deutschlandradio Kultur: Sie haben mal gesagt, Sie brauchen im Kochtopf ein totes Tier. Vegane Küche lehnen Sie ab. Was macht Sie so glücklich damit, mit Tieren zu kochen?
    Tim Raue: Ich bin damit aufgewachsen. Ich mag den Geschmack. Ich töte die Tiere auch zum Teil selber. Das ist eine Verantwortung, die ich sehr wichtig finde. Wenn wir neue Sauciers haben, das sind die Fisch- und Fleischköche, töte ich mit denen Tiere. Das heißt, wir gehen auch ins Schlachthaus und bringen ein Kalb um, damit die Sauciers ein Bewusstsein dafür bekommen, was sie da zubereiten. Diese Wegschmeißkultur muss einfach eliminiert werden. Es gibt heute Jugendliche, die glauben tatsächlich, dass ein Rinderfilet ein Tier ist und realisieren nicht, dass ein Rind 400 Kilo wiegt und dann aber gerade einmal vier Kilo Filet hat. Das ist etwas, was ich ganz, ganz elementar finde. Also, da achten wir sehr drauf.

    Chef's Table - Tim Raue
    Regie: Abigail Fuller
    Dokumentation, 48 Minuten, Englisch/ Deutsch
    Netflix

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