Stein: Gaza-Rückzug ist "historische Entscheidung"

Moderation: Birgit Kolkmann · 17.08.2005
Der israelische Botschafter in Deutschland, Shimon Stein, hat den Gaza-Abzug als historische Entscheidung bezeichnet. Nun sei die internationale Gemeinschaft aufgerufen, den Palästinensern beim Aufbau ihrer Gebiete zu helfen. Nur dann gebe es eine gute Zukunft gleichermaßen für Palästinenser und Israelis, sagte Stein im Deutschlandradio Kultur.
Kolkmann: "Bulldozer" wird Ariel Scharon seit Jahren genannt - ein Spitzname für seine oft kompromisslose Art, Entscheidungen durchzusetzen. Jetzt lässt Scharon Bulldozer in den Siedlungen auffahren, deren Bau er einst vorangetrieben hatte, und um Mitternacht lief das letzte Ultimatum an die Siedler aus, den Gazastreifen freiwillig zu verlassen. Ab heute werden die Soldaten nicht mehr lange fackeln. In diesen Minuten beginnen sie ihren Rundgang durch die Siedlungen, um die noch anwesenden Siedler zum gehen aufzufordern. Wer sich weigert, wird zwangsevakuiert. Doch größer ist der Widerstand noch von etwa 4.500 Demonstranten, die sich in den letzten Wochen in den Siedlungen verschanzt haben. Sie machen Ärger, und das kommt auch in den israelischen Medien nicht nur gut an. Wir begrüßen jetzt am Telefon Shimon Stein, Israels Botschafter in Deutschland. Herr Stein, mit welchen Gefühlen verfolgen Sie die Berichte über den Abzug der Siedler hier aus Deutschland?

Stein: Ja, mit großer Aufmerksamkeit. Ich stand heute Morgen bereits eine Stunde früher auf, um in die Presse zu schauen. Die israelische Gesellschaft geht jetzt durch eine nicht sehr leichte Phase durch. Auch wenn die große Mehrheit der israelischen Gesellschaft hinter der Entscheidung der Regierung, des Ministerpräsidenten, steht, ist das, was sich im Gazastreifen emotional abspielt, nicht sehr leicht. Auch wenn die, die dort sind, Widerstand leisten und noch leisten werden, sind es eben nicht unsere Feinde. Das ist eigentlich ein Teil des jüdischen Volkes, Menschen, die aus ideologischen, religiösen und sonstigen Gründen überzeugt sind, dass das, was getan wird, ein Fehler ist. Aber am Ende des Tages und am Morgen danach, wenn alles hinter uns liegt, müssen wir als eine Gesellschaft weiter dort gemeinsam uns mit unseren Problemen beschäftigen, und deshalb, glaube ich, gibt es auch eine gewisse Empathie.

Kolkmann: Was wird denn jetzt Scharon gewinnen auch für den möglichen weiteren Friedensprozess, wenn diese 8.000 Siedler den Gazastreifen verlassen haben? Es sind immer noch 450.000 Siedler auf palästinensischem Grund, und zwar im Westjordanland und in Ostjerusalem.

Stein: Ja, es sind noch welche, aber wir wollen uns zunächst konzentrieren auf die historische Entscheidung, die jetzt vollzogen wird, und wollen sehen, ob diese historische Chance dann auch von unserem Nachbarn anerkannt wird, denn letztendlich ist das eine mutige Entscheidung unseres Ministerpräsidenten, der sich mit der Realität auseinander gesetzt hat und eine höchst umstrittene Entscheidung getroffen hat, die auch für ihn persönlich und seine politische Zukunft problematisch ist. Ich bin mal gespannt, ob die palästinensische Behörde mit Abu Masin dann wirklich diese Entscheidung, diese historische Chance anerkennt und das tut, was nicht nur wir von ihm erwarten, sondern die Staatengemeinschaft: Gaza als Modell für ein gemeinsames Leben in der Zukunft. Wenn das so sein wird, dann werden auch die Ängste der Israelis geringer werden, die auch mit diesem Umzug verbunden sind, denn es gibt auch Risiken mit der Ungewissheit über den Morgen danach, die bei uns vorhanden sind. Deshalb, glaube ich, sollten wir uns zunächst auf das konzentrieren, was auf der Tagesordnung ist. Wenn das friedlich verläuft, ohne Terror und Feuer, dann, glaube ich, werden die Israelis zuversichtlich über die weiteren Schritte nachdenken, und das ist die Road Map, für die von uns und von den Palästinensern gestimmt wurde.

Kolkmann: Bedeutet das auch, dass es einen weiteren Abzug aus dem Westjordanland geben wird?

Stein: Dieser Rückzug ist ein einseitiger Rückzug, und es stellt sich die Frage: Ist das der Weg der Zukunft, einseitige Maßnahmen zu treffen? Ich meine nicht. Frieden werden wir mit den Palästinensern gemeinsam abschließen müssen. Die Frage, ob das der Weg auch in der Westbank ist, kommt im Moment überhaupt nicht in Frage für den Ministerpräsidenten, und ich meine nicht, dass zahlreiche Israelis auf diese Frage automatisch eine positive Antwort geben würden. Deshalb, glaube ich, ist der Weg der Zukunft nicht einseitig, sondern gemeinsam, und wir sollen sehen, wie sich das große Problem, das dazu geführt hat, dass wir uns einseitig zurückgezogen haben, ohne Partner, mit Terror. Wenn das so weitergeht, dann werden wir, glaube ich, nicht mehr so optimistisch sein, was den Morgen danach anbelangt.

Kolkmann: Sie sprachen eben schon die internationale Gemeinschaft an. Ist es nun ganz wichtig, dass vor allen Dingen sie und wahrscheinlich insbesondere die Europäische Union der Palästinensischen Autonomiebehörde hilft, in den Gebieten eine neue Infrastruktur aufzubauen?

Stein: Ich glaube, das ist von ausschlaggebender Bedeutung. Sehen Sie, auch wenn wir theoretisch morgen ein Abkommen mit den Palästinensern unterschreiben würden, was bedeutet das für den Palästinenser, der heute in Gaza lebt? Kann er damit, auch wenn es ein wichtiges Papier ist, etwas für seine Familie tun? Deshalb glaube ich, eine wirtschaftliche Perspektive zu schaffen, Wachstum, Arbeitslosigkeit zu beseitigen, das sind alles Dinge, die von großer Bedeutung sind, damit der Palästinenser auch sieht, dass in der Tat für ihn eine neue Zukunft entsteht. Auch für uns Israelis ist es, glaube ich, von Interesse, die Palästinenser auf der anderen Seite als zufriedene Menschen mit einer Zukunft zu sehen, denn Nachbarn, die nicht zufrieden sind, bedeuten auch Probleme für uns. Insofern glaube ich, das ist eine große Herausforderung für die Staatengemeinschaft, diese Initiative, diese Chance zu ergreifen, eine politische und wirtschaftliche Perspektive im Gazastreifen zu schaffen. Das ist unsere große Hoffnung für den Morgen.

Kolkmann: Vielen Dank für das Gespräch.