Steffen Schleiermacher und das Ensemble Avantgarde blicken in den Spiegel

Musikalische Palindrome

Der Pianist und Komponist Steffen Schleiermacher, 2005 in Alicante
Kein Palindrom im Namen, aber im Blick: Der Pianist und Komponist Steffen Schleiermacher © Xavier Miró
Moderation: Olaf Wilhelmer · 07.05.2020
"Ein Seetier iss, o Ossi, reite es nie!" Diese Anweisung gilt auch für Wessis, vor allem dann, wenn es sich – wie hier – um Palindrome handelt. Und aus solchen besteht dieses Konzert, das wir zum 60. Geburtstag des Pianisten Steffen Schleiermacher wiederholen.
Wer "von hinten wie von vorne A-N-N-A" ist, der hat, wie schon Kurt Schwitters wusste, die Ehre, ein Palindrom zu sein. Auch Otto darf sich freuen, und mit ihm alle Rentner. Wer seinen Durst mit Hilfe eines Retsinakanisters stillt, ebenfalls. An diesem Gefäß haben sich auch viele Komponisten gelabt, spielt doch das Palindrom in der Musik eine wichtige Rolle.

Programm mit Spiegelachse

Der Komponist und Pianist Steffen Schleiermacher präsentierte mit dem Ensemble Avantgarde im Leipziger Gewandhaus 2011 ein Programm, das es in sich hat. Genauer gesagt: das eine Spiegelachse in sich hat. Denn so, wie sich dieses Programm musikalischen Palindromen widmet, ist es auch selbst als Palindrom gebaut: Es beginnt mit Ligeti, Hindemith und Scelsi und endet mit Scelsi, Hindemith und Ligeti.

Ende ist Anfang ist Ende

In der Mitte, gleichsam als geistige Spiegelachse, findet sich das vielleicht älteste aller musikalischen Palindrome – das programmatisch überschriebene Vokalstück "Ma fin est mon commencement" ("Mein Ende ist mein Anfang") von Guillaume de Machaut aus dem 14. Jahrhundert.
Der Pianist und Komponist Steffen Schleiermacher präpariert ein Klavier.
Steckt hier noch ein Palindrom? Der Pianist und Komponist Steffen Schleiermacher arbeitet im Inneren des Klaviers.© privat
Das Wort Palindrom kommt aus dem Griechischen und bedeutet "rückwärts laufend". Es ist ein abstraktes Prinzip, das in der Konkretion der Sprache gerne zu herrlichem Nonsens führt oder zu Wörtern, die in Internet-Foren diskutiert werden, etwa dem finnischen Begriff für Seifensteinverkäufer (Saippuakivikauppias).
In der Kunst der Musik wirkt das Palindrom auf subtile Weise und hat an der Schnittstelle von konstruktiver Dichte und bizarrem Humor schon manches Meisterwerk hervorgebracht.

Palindromische Pfeiler

Ein Konzertprogramm als Gesamtkunstwerk – wiederholt zu Ehren des 60. Geburtstages von Steffen Schleiermacher. Das an dieser Stelle ursprünglich zur Sendung eingeplante Jubiläumskonzert aus dem Gewandhaus wurde aus gegebenem Anlass auf unbestimmte Zeit verschoben, aber ein – auch im Zusammenhang mit Deutschlandfunk Kultur entstandenes – Buch ist soeben erschienen.
Hier wie dort zeigt sich Steffen Schleiermacher als unerschütterlicher Pfeiler der Gegenwartsmusik. Oder, palindromisch gesprochen: als Reliefpfeiler.
Aufzeichnung vom 8. Juni 2011 im Gewandhaus Leipzig, Mendelssohn-Saal
György Ligeti
Vorspiel zur Oper "Le Grand Macabre" für zwölf Autohupen
Paul Hindemith
Präludium aus "Ludus tonalis" für Klavier
Giacinto Scelsi
"Hyxos" für Flöte und Schlagzeug
Anton Webern
Variationen für Klavier op. 27
George Crumb
"Madrigals, Book IV" für Stimme und vier Instrumente
Steffen Schleiermacher
"Lîla" für Klavier
Guillaume de Machaut
Rondeau "Ma fin est mon commencement", für Sopran und Ensemble gesetzt von Steffen Schleiermacher
Giacinto Scelsi
"Dithome" aus "Trilogia. Die drei Lebensalter des Menschen" für Violoncello solo
Paul Hindemith
Postludium aus "Ludus tonalis" für Klavier
György Ligeti
Vorspiel zur Oper "Le Grand Macabre" für zwölf Autohupen

Olivia Stahn, Sopran
Christian Giger, Violoncello
Ensemble Avantgarde
Leitung, Klavier und Moderation: Steffen Schleiermacher

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