Stefan Hertmans

Glaube, Liebe, keine Hoffnung

Der flämische Schriftsteller Stefan Hertmans im November 2014 bei der Entgegennahme des wichtigsten niederländischen Literaturpreises in Den Haag
Der flämische Schriftsteller Stefan Hertmans im November 2014 bei der Entgegennahme des wichtigsten niederländischen Literaturpreises in Den Haag © dpa / picture alliance / ANP / Bas Czerwinski
Von Katrin Schumacher · 29.12.2014
Aus den Aufzeichnungen seines Großvaters fertigt der belgische Autor Stefan Hertmans eine bedrückende Bildergalerie des 20. Jahrhunderts. Zwischen Schlachtengemälde, Sittenbild und romantischem Pastell spannt sich "Der Himmel meines Großvaters".
600 Seiten, zwei voluminöse Hefte. Über 30 Jahre lang liegen die Memoiren seines Großvaters in der Schublade des erfolgreichen belgischen Autors Stefan Hertmans, bevor er wagt, in dessen Erinnerung hinabzusteigen. Urbain Martien, der kleine blauäugige Mann mit dem schlohweißen wirren Haarschopf, der sich zuhause in Malerkittel kleidet und auf der Straße nur mit einer großen schwarzen Schleifenkrawatte zu sehen ist, geboren wurde er 1891, gestorben ist er 1981. Wie viel Leben passt in die Rochade zweier Ziffern innerhalb einer Jahreszahl? Zuviel, fürchtet Hertmans. Und er hat Recht.
Urbain wächst im bitterarmen flämisch-katholischen Arbeitermilieu von Gent auf, arbeitet als Junge in der Eisengießerei, bevor er sich mit siebzehn für eine Laufbahn in der Armee entscheidet. Immer dabei sind die Pastellkreiden, der Kohlestift, das Talent zum Malen, das er von seinem Vater geerbt hat. Die Kunst wird für Urbain nie zum Brotberuf werden, und doch zeichnet er sich zeitlebens die Seele aus dem Leib.
Eine Kindheit voller Armut und Arbeit
Es sind berückende, mit feinem Pinselstrich hingeworfene Beobachtungen, mit denen Stefan Hertmans das Leben von Urbain nachzeichnet. Eine mittelalterlich anmutende Kindheit voller Armut und Arbeit, ein traumatisches Kriegserlebnis als junger Mann, und schließlich – das zentrale Geheimnis der großväterlichen Biografie – die lebenslange Liebe zur früh verstorbenen Geliebten. Die Personen bleiben mal rasch hingeworfene Skizzen, wie die Geschwister Urbains oder der Stiefvater, mal sind es detailreiche Gemälde, wie das der stolzen schönen Mutter oder des ätherisch-asthmatischen Vaters. Zwischen den Knochenleimfabriken, den Genter Gassen und den religiösen Malereien des Vaters spannt sich das Netz der Kindheit. Bis die Welt in Flammen aufgeht.
Nach gut 150 Seiten bricht der Weltkrieg aus, der Erzähler wechselt, die Büchse der Pandora schnappt auf. Statt Hertmans Berichten und Reflektionen lesen wir die ungefilterten Aufzeichnungen des Urbain Martien, der mit Anfang zwanzig durch die Schützengräben Flanderns getrieben wird und die Hölle erlebt. Wie kopfloses Vieh fallen abertausende junge Männer, werfen sich oft selbst in den Kugelhagel der "Moffen", wie die Deutschen genannt werden, um die Gräuel nicht mehr ertragen zu müssen. Dieser Krieg hat nichts mit Ehre und Vaterland zu tun. Es ist ein Menschenschlachthaus, dessen Vermessung nur schwer zu ertragen ist.
Der grauenhafte Nebel des Krieges
Alle Kriege gleichen einander. Und alle sind verschieden. Für Urbain gilt zum einen das "Jahrhundertproblem", wie es Heiner Müller einst konstatierte: Bevor Frauen für ihn eine Erfahrung sein konnten, war es der Krieg. Auf der anderen Seite steht die persönliche Geschichte der fünffachen Verwundung, der Feinderkundungen und des Glücks im Unglück. Wenn der grauenhafte Nebel sich an einigen Stellen etwas lichtet, meint man, einem kindlichen Versteckspiel beizuwohnen. Bis die nächsten tödlichen Granaten splittern.
In dieses Buch passt beinahe ein Jahrhundert – und doch ist das Leben des jungen Flamen bereits mit Ende zwanzig vorbei, legt sich in Schleifen, rund um das Kriegstrauma: Glaube, Liebe, keine Hoffnung. Stefan Hertmans macht sich auf die literarisch höchst gelungene Suche nach seinem Großvater, und nach der Lektüre versteht man einmal mehr, dass der Zweite Weltkrieg kaum eine Rolle mehr spielen wird in der belgischen Erinnerungskultur. Es sind die vier Jahre nach 1914, die Flandern nachhaltig traumatisiert haben. Die Erde mag vergessen. Dem Menschen ist das traurige Privileg eigen, sich zu erinnern. Zum Gedenkjahr an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges fügt dieses Buch, das den Wahnsinn aus der Sicht eines sensiblen flämischen Soldaten zeigt, dem kollektiven Geschichtsbuch ein paar wichtige Seiten hinzu.
Stefan Hertmans: Der Himmel meines Großvaters
Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm
Hanser Berlin Verlag
320 Seiten, 21,90 Euro
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