Statik und Dynamik in der Musik

23.02.2007
In Peter Gülkes neuem Buch verbinden sich dessen Praxiserfahrung als Dirigent und Musikwissenschaftler und weit greifende, nie nur "musikinterne" Weltsicht zu einer Musikphilosophie eigener Art. Die Einzelstudien des Buches umfassen unter anderem eine Reihe liebevoll-eindringlicher Kollegenporträts zwischen Hans von Bülow und Karajan, Wand oder Kleiber.
Die Verbindung von gelebter Musikpraxis, wissenschaftlichem Interesse und spekulativer Phantasie hat oft seltsam gestaltete Chimären hervorgebracht, weil es ein schwieriger Balanceakt ist, die verschiedenen Ebenen in ein harmonisches Miteinander und angemessene Proportionierung zu bringen.

Peter Gülke – nicht nur ein angesehener Dirigent und Musikwissenschaftler, sondern auch Mitglied der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung – ist einer der eher seltenen Fälle, wo man solche Bedenken von vornherein beiseite lassen darf. Im Gegenteil: Auch in seinem neuen Buch verbinden sich eine nunmehr fast halbhundertjährige Praxiserfahrung und weit greifende, nie nur "musikinterne" Weltsicht zu einer Musikphilosophie eigener Art, die die Grenzen des Orchesterpodiums beträchtlich überschreitet und, obwohl sie nirgendwo als geschlossenes System formuliert wird, jede einzelne der hier zusammengefassten Studien und Aphorismen zur musikalischen Interpretation grundiert und hinterlegt.

Ihr Kern ist das Nachdenken über die Dialektik von – pathetisch gesagt – Ewigkeitswerten und temporären Faktoren, von Statik und Dynamik, von Festgeschriebenem und Flüchtigem im Prozess der musikalischen Aneignung durch Interpreten und Hörer: Ein Prozess, in dem es keine endgültigen und immerwährenden Lösungen gibt, so dass er sich (das ist eine, wenn nicht die Quintessenz aus Gülkes Betrachtungen) vor jeder einzelnen Aufführung als neue Aufgabe stellt.

Reizvoll ist das, weil sich genau daraus die Lebendigkeit des Musiklebens ergibt; und verantwortungsvoll, weil solche offenen Grenzen das Musikproduzieren und –hören ständig in diverse Sackgassen und Irrwege führen können. Gerade den Dirigenten kommt in diesen Vorgängen eine Steuerungsfunktion zu, über die der Autor anhand eigener Erfahrungen sowie direkter und indirekter (also durch Auswertung historischer Zeugnisse gewonnener) Beobachtungen ausführlich reflektiert.

Die thematische Spanne ist dabei sehr groß: 24 Einzelstudien behandeln einerseits konkrete aufführungspraktische Fragen im Verhältnis von Partiturtext und klanglicher Realisierung oder sinnieren über soziologische und medientheoretische Bezugspunkte des Dirigentenberufs, umfassen aber auch eine Reihe liebevoll-eindringlicher Kollegenporträts zwischen Hans von Bülow und Karajan, Wand oder Kleiber.

Zum größten Teil handelt es sich dabei um schon erschienene Texte unterschiedlicher Ausdehnungen, Zielrichtungen und Entstehungszeiträume – der älteste von 1966 - die der Verlag nach Themengruppen geordnet hat, woraus sich das gelegentliche Wiederaufgreifen ähnlicher Anknüpfungspunkte an ganz verschiedenen Stellen erklärt. Bisweilen muss der Leser dabei tolerieren, mit ausgesprochen fachwissenschaftlich geprägten Texten konfrontiert zu werden, deren Thesen erst bei gleichzeitigem Partitur- und Klangstudium in Gänze zu erschließen wären.

Doch selbst dort geht es nie ausschließlich um trockene Strukturanalysen, sondern es finden sich stets Passagen einer je nachdem witzig provozierenden oder vorsichtig nachfragenden, im Gestus oft fast poetisierenden Suche nach Schichten und Zusammenhängen hinter dem Notenbild – häufig unter Erörterung von Möglichkeiten zu deren klingender Verwirklichung.

Neu geschrieben wurden für dieses Buch die abschließenden "Momentaufnahmen" – knapp 100 Seiten mit Miniaturessays, in denen Gülke, unbelastet von Zwängen formaler Abrundung, um so ungezwungener beobachten und freier phantasieren kann: kaleidoskopische Gedankensplitter, manchmal frech und manchmal grüblerisch, aber gerade hier immer mit Anteilnahme und manchmal sogar mit Rührung zu lesen; weil sie besonders konzentriert von jener tiefen Neigung zur Musik und zu den Musikern sprechen, die das ganze Buch prägt.


Rezensiert von Gerald Felber

Peter Gülke: Auftakte – Nachspiele. Studien zur musikalischen Interpretation
J. B. Metzler/Bärenreiter, Stuttgart/Kassel 2006, 294 Seiten, mit Notenbeispielen, 39,95 Euro