Stasi-Unterlagenbehörde

Forderung nach einem neuen Blick auf die Akten

10:22 Minuten
Blick auf Regale mit Akten des einstigen Ministeriums für Staatssicherheit im Archiv der "Birthler-Behörde", aufgenommen am 15.11.2006 in der Ruschestraße in Berlin.
Die Akten der Stasi-Unterlagenbehörde gehen ins Bundesarchiv über. Es wäre eine Chance, die Quellen nun breiter zu erforschen, sagt die Historikerin Christina Morina. © picture-alliance/ ZB | Gero Breloer
Christina Morina im Gespräch mit Axel Rahmlow · 14.06.2021
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Die Stasi-Unterlagenbehörde geht im Bundesarchiv auf. Die Historikerin Christina Morina hofft, dass sich der Blick auf die Stasi-Akten künftig weitet. Mit ihnen könne man nicht nur die DDR-Diktatur, sondern Gesellschaften generell verstehen.
Die Stasi-Unterlagenbehörde hat in den vergangenen 30 Jahren immer wieder belegt, wie intensiv die Bespitzelung der Bevölkerung in der DDR war: Neben den vielen eigentlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Staatssicherheit waren es auch Ehepartner, Nachbarn oder Kolleginnen, die andere Menschen ausspionierten. Am 16. Juni geht die Stasi-Unterlagenbehörde nun im Bundesarchiv auf.

Was die Akten für den Osten bedeuten

Für die ostdeutsche Öffentlichkeit und die Bevölkerung, die früher in der DDR gelebt hat, sei die Stürmung der Stasi-Zentralen, der Archive und der örtlichen Behörden ein großer Akt der Selbstbefreiung und der wiedergewonnenen Kontrolle und Selbstbestimmung gewesen, sagt die Historikerin Christina Morina von der Universität Bielefeld. Denn so sei die Sicherung der Akten für die Aufarbeitung möglich geworden.
Fast alle Bereiche der Herrschafts- und Kontrollpraxis der SED und der Staatssicherheit seien seitdem sehr gründlich und umfassend erforscht worden. Daher wisse man heute sehr viel darüber.
Die Überführung der Akten ins Bundesarchiv geschieht nach Ansicht von Morina zum passenden Zeitpunkt. "Wir sind heute 30 Jahre, also eine Generation im Grunde, später und weiter. Ich finde, dass das ein guter Moment ist."

Nicht nur über Diktatur forschen

Die Historikerin hofft auf eine inhaltliche Öffnung bei der Erforschung der Akten. "Es war immer sehr stark betont worden, dass wir aus der Diktaturgeschichte etwas für die Demokratie lernen können. Da ist ein Fokus naturgemäß stark auf den Verfolgungsmechanismen, auf den Unterdrückungsmethoden und den Erfahrungen der davon Betroffenen: der Verfolgten, der Opfer, der Widerständler."
Dieser Fokus sei berechtigt gewesen, müsse aber nun übergehen in eine breitere Perspektive, fordert die Historikerin. Es sei sinnvoll, an den Stasi-Akten nicht nur zu erforschen, wie Diktaturen, sondern auch wie Gesellschaften grundsätzlich funktionierten: "Wie solidarisches, mitfühlendes Verhalten funktioniert und wie eben auch Machtmissbrauch, Karrierismus, Opportunismus, der tagtägliche Verrat, das tagtägliche moralische Dilemma Gesellschaften grundsätzlich prägen."

Die AfD-Wählerschaft verstehen

Die Erweiterung des Blicks könne auch helfen, in der Gegenwart die Wählerschaft der AfD zu verstehen, sagt Morina und bezieht sich dabei auf die Erwartungen von DDR-Bürgern 1989/90: Vom Anschluss an die Bundesrepublik hätten sie sich Demokratie im Sinne einer stärkeren und direkteren Wahrnehmung der eigenen Interessen versprochen.
"Ich glaube, viele Menschen - auch weit über die SED hinaus - haben in der DDR mit dem Sozialismus und dem Mitwirkungsversprechen auch etwas Ernsthaftes verbunden", sagt sie. Umso schlimmer sei das tägliche Scheitern daran gewesen.
Diese Erwartungen an die Demokratie hätten sich für Teile der ehemaligen DDR-Bürgerinnen und Bürger aber auch nach der Wende nicht erfüllt. Was die ostdeutsche Wählerschaft der AfD angehe, wirke dies direkt nach, wenn man sehe, wie stark die AfD heute die populistische, plebiszitäre Perspektive von unten einnehme und verspreche, eine andere Art der Volksvertretung zu sein.
(jfr)
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