Start-ups in der Kritik

Die wahren Feinde der Pressefreiheit sitzen woanders

05:34 Minuten
Auf einer Glasscheibe vor dem Jakob-Kaiser-Haus an der Spreepromenade ist der Text des Artikel 18 des Grundgesetzes zu lesen. Der Artikel 18 definiert neben anderen die Freiheit der Meinungsäusserung sowie der Pressefreiheit. Das Grundgesetz vom 23. Mai 1949 ist in seiner jeweils aktuellen Fassung die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland.
Die wahren Feinde der Pressefreiheit sitzen nicht im Start-up-Beirat © picture alliance / dpa / Stefan Jaitner
Ein Kommentar von Annika Schneider · 17.07.2021
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Wenn Start-ups in einem Positionspapier eine "Disziplinierung" der Medien fordern, ist das kritikwürdig, findet Annika Schneider. Aber sollte man sich nicht mit gleichem Schwung auch denen zuwenden, die die Pressefreiheit wirklich abschaffen wollten?
Die Vorstellung ist zu schön: Da sitzt eines dieser Start-up-Teams bei der obligatorischen Feierabend-Bionade auf dem Sitzsack und diskutiert die Resonanz auf die letzte Pressemitteilung, sprich "Press Release". Damit ist man schnell fertig, denn: Leider hat kein einziges Medium darüber berichtet. Fazit, da sind sich alle einig: Die Presse nervt echt. Die sollen bitte schön auch mal über uns schreiben, und dann bitte was Gutes.
So oder so ähnlich scheint das Positionspapier des Beirats Junge Digitale Wirtschaft zustande gekommen zu sein: Darin fordern drei Mitglieder eine Verpflichtung der Medien, auch über kleine Börsengänge zu berichten. Ach ja, und dann wünschen sie sich noch eine "Disziplinierung der Presse" zu sachlicher, richtiger und vollständiger Information. Denn unter Finanzredakteuren habe sich ein regelrechtes "new economy bashing" verbreitet, so die etwas weinerliche Beschwerde.

Eine bescheuerte und peinliche Idee

Man muss nicht Medienrecht studiert haben, um auf Anhieb zu sehen, dass das eine bescheuerte Idee ist, peinlich obendrein. In ihrem grenzenlosen Gründungseifer scheint dem Trio glatt durchgegangen zu sein, dass wir in Deutschland Pressefreiheit haben – verankert im Grundgesetz höchstselbst.
Sobald das dem Beirat lautstark entgegenschallte, ruderten die Verantwortlichen ohne viel Gegenwehr zurück: Es folgten Entschuldigungen, Distanzierungen, ein Verfasser des Papiers trat aus dem Gremium zurück – alles richtige Konsequenzen. Die Business-Pros haben wohl im Politikunterricht nicht aufgepasst. Sechs, Setzen – und dann bitte noch einmal Nachhilfe in Sachen Demokratie.
Thema erledigt? Auf Twitter noch lange nicht! Dort schien es, als sei mit der Start-up-Szene der wahre Feind der Pressefreiheit entlarvt worden. BWLer, die in gläsernen Lofts Kicker spielen, nebenbei eine App entwickeln und dafür Millionen einsacken, finden die nächste Investorenrunde wichtiger als demokratische Grundsätze – klingt so einleuchtend, dass es stimmen muss. "Fake it, till you make it", lautet ein bekannter Rat für Start-ups – da stecken die "Fake News" ja quasi schon drin! Dass damit gleich eine ganze Gruppe diffamiert wird – geschenkt.

Medienskepsis und -misstrauen sind en vogue

Dabei könnte man die wahren Gefahren für die Pressefreiheit ja auch ganz woanders verorten: Zum Beispiel bei Demos gegen Corona-Maßnahmen – im vergangenen Jahr dem gefährlichsten Arbeitsplatz für Journalistinnen überhaupt. Oder in der AfD, die laut Wahlprogramm alle Rundfunkstaatsverträge in den Bundesländern abschaffen will. Bei einigen rennt sie damit offene Türen ein: Medienskepsis und -misstrauen sind in Teilen der Bevölkerung seit Jahren en vogue.
Ein komplexes Problem und keine schnelle Lösung in Sicht. Kein Wunder, dass stattdessen das Positionspapier aus der Gründerszene in den Twittertrends auf Platz Eins landete – ist so schön einfach und alle sind der gleichen Meinung.

Den Spaß wollte sich keiner entgehen lassen

Aber auch andere wollten sich den Spaß nicht entgehen lassen: Kaum ein Medienmagazin, kaum eine Medienseite kam ohne das Thema aus. Ganz schön viel Platz und Sendezeit für einen Vorschlag, den nicht einmal die Verfasser selbst verteidigen mochten.
Schon möglich, dass einzelne Beiratsmitglieder die freie Medienberichterstattung gerne abschaffen würden – und ja, das haben wir jetzt alle mal verurteilt. Aber könnten wir uns als nächstes nicht mit genauso viel kreativem Schwung all den anderen Feindinnen und Feinden der Pressefreiheit zuwenden? Denjenigen, die nicht bei der ersten kritischen Rückfrage beidrehen? Ja, ich weiß, das macht weniger Spaß. Aber dafür ist es – ganz im Gegensatz zu den peinlichen Gestalten des Beirats – immerhin eine echte Herausforderung!
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