Standorte der Wissenschaft

04.07.2010
"Mekkas der Moderne" stellt reale und fiktive Standorte der modernen Wissenschaft vor. Die Reise führt von den Startrampen von Cape Canaveral über Darwins Galapagosinseln bis hinauf zum Mars.
Es liegt an der Abstraktheit heutiger Gesellschaften, dass Menschen sich nach Orten sehnen, die ihrer Erinnerung Halt geben und ihr Denken materiell beglaubigen. So besuchen sie Museen, um Exponate der Natur zu bewundern, oder die Geburtshäuser berühmter Geister, um sich von ihrem Genius anwehen zu lassen. Wissen ist unsichtbar, Ideen sind flüchtig und Hypothesen stets von Falsifikation bedroht. Aber die Lokalitäten, an denen Exkursionen, Experimente und Entdeckungen zu besichtigen sind, scheinen geistige Substanz zu versprechen.

Für wissbegierige Reisende liegt nun ein Führer vor, in dem 65 Autoren 76 reale und fiktive Standorte der modernen Wissenschaft vorstellen. Die Reise führt von den Startrampen von Cape Canaveral über Darwins Galapagosinseln, die Ausgrabungsstätten von Troja und die Großteleskope in der chilenischen Wüste bis hinauf zum Mars, dem Fernziel aller technischen Imagination.

"Kein Gestirn ist so dicht mit Phantasiewesen besiedelt worden wie der Mars. Doch ist die Geschichte der Marsforschung von Anfang auch eine Geschichte von Pleiten, Pech und Pannen, von Sonden, die am Roten Planeten vorbeischießen, von Landekörpern, die beim Eintritt in die dünne Marsatmosphäre verstummen oder zerschellen. Fast möchte man glauben, dass die Marsmännchen alles daran setzen, nicht entdeckt zu werden."

Von "Mekkas der Moderne", von "Pilgerstätten der Wissensgesellschaft", wie es der Buchtitel verheißt, ist in diesem Reiseführer nicht die Rede. Manche Orte wie der Mars, das russische Kernforschungszentrum Dubna, das Bikini-Atoll, die Clubräume für die Professoren in Oxford oder das Stockholmer Rokokopalais, wo alljährlich das Nobelpreiskomitee seine Wahl trifft, sind für einen Normalsterblichen unzugänglich. Pilger des Wissens wurden dort noch nie gesichtet.

Andere Orte wie die Oase Essakane in Mali oder das Archipel Samoa, wo Margaret Mead einst das ethnographische Märchen von allgemeiner Friedfertigkeit und Freizügigkeit erfand, liegen abseits der Hauptreiserouten. In der Eiswüste der Antarktis sollen alljährlich immerhin 40.000 Pauschalurlauber landen - für einen Schnappschuss der erhabenen Glitzerkulisse.

Doch viele Reiseziele bieten so wenig sinnliche Reize, dass sich kaum jemand dorthin verirrt, der Zweckbau des Basler Bahnhofkühlhauses beispielsweise, der 2008 abgerissen wurde, die Garage in Palo Alto, in der nie ein Computer entwickelt wurde, oder die Redaktion der Wissenschaftszeitschrift "Nature".

"Die Crinan Street ist eine schmale Gasse, in der man auch einen Krimi drehen könnte: dunkle Mauern, eine Autowerkstatt, kaum Verkehr. Die Nummer vier ist unscheinbar, ein ehemaliges Lagerhaus aus gelbem Klinker. Der Olymp wirkt banal. Geschäftiges Treiben wie in einem Großraumbüro. Besucher haben normalerweise keinen Zutritt, warum auch. Die Öffentlichkeit wird schließlich im Blatt hergestellt, nicht vor Ort in der Redaktion.

Fachredakteure blättern durch Manuskripte und angeln nach Telefonen zwischen Teetassen und Sedimenten von Fachliteratur. Hier sind Manuskripte zwar willkommen. Aber "Nature" ist eine Ablehnungsmaschine. Von hundert Manuskripten gehen über 90 mit einem knappen Kommentar per E-mail zurück an den Absender:"

Mit einem Reiseführer für den Lehnstuhl hat man es hier also zu tun. Er bietet eine kurzweilige Lektüre, weniger wegen seiner Ortsbeschreibungen als wegen der Kurzgeschichten über die krummen Wege der Wissenschaft. Von Fächergrenzen haben sich die Herausgeber zu Recht nicht aufhalten lassen. Anthropologie und Archäologie sind ebenso vertreten wie Astronomie oder Architektur. Wem die Fachliteratur zu unverständlich und die historische Detailforschung zu abwegig ist, der erhält mit diesem Reiseführer einen Eindruck von der Zielstrebigkeit, aber auch von den Zufällen und Irrwegen menschlicher Wissbegier.

Dennoch will die Grundidee des Buches nicht recht überzeugen. Wissenschaftsgeschichte ist kaum in Ortsgeschichte zu überführen. Denn Wissen lässt sich weder besichtigen noch riechen oder gar schmecken. Es existiert in den Gehirnen der Menschen. Und materielle Substanz erlangt es nicht in Orten, sondern in Schriften, Diagrammen, Statistiken, Bildnissen oder Dateien.

Diese aber finden sich nicht dort, wo Forscher einst Skelette, Formeln, schwarze Löcher oder Bakterien entdeckten, sondern wo ihre Gedanken niedergeschrieben und aufbewahrt sind: in Bibliotheken. Die großen Bucharchive von St. Gallen, Paris oder Washington jedoch kommen in dem Buch nicht vor.

Da Informationen wenig greifbar sind, behelfen sich die Autoren mit einem überdehnten Wissensbegriff. Auch Orte moralischer Einsicht oder ästhetischer Erbauung wie Albert Schweitzers Lambarene, das Schlachtfeld von Solferino, dem Gründungsort des Roten Kreuzes, oder die Mona Lisa im Pariser Louvre haben sie in ihre Liste aufgenommen. Aber Wissen kann man nur, was der Fall ist, und nicht, was sein sollte und schon gar nicht, was nur die Sinne oder Einbildungskräfte reizt.

Die Zentren der modernen Wissenschaft sind in Wahrheit wenig spektakulär. Es sind die Institute an den Hochschulen, die Laboratorien der Privatindustrie, die Denkfabriken einiger Stiftungen, die öffentlichen Datenbanken und Büchereien. Dorthin pilgern tatsächlich täglich Hunderttausende, dort wird das Wissen erworben, gesammelt, verwaltet und verteilt, und dort ist die Forschung als Betrieb organisiert.

An diesen unauffälligen Orten findet der normale Fortgang der Wissenschaft statt. Für das Genre des Reiseberichtes geben sie nicht viel her. Es sind Fronstätten beharrlicher Arbeit, und manchmal erweisen sie sich sogar als Brutstätten der Kreativität.

"Bei meinem ersten Aufenthalt im Aspen Center for Physics kam ich auch, wie wohl viele andere, in der festen Absicht, diverse unvollendete Projekte entdlich fertigzustellen. Was wäre das für eine Zeitverschwendung gewesen! In Aspen kann man gar nicht anders, als im Gespräch mit herausragenden Physikern aus aller Welt, jeder mit seinem ganz eigenen Blickwinkel, aber ohne die Not des unmittelbar evaluierbaren Erfolgs, schräge, unsinnige, falsche und eben dann und wann auch durchschlagend neue Gedanken zu entwickeln, die einen über die Grenzen führen."

Für die Wissenschaftler liegt Mekka fernab des Pantheons der Unsterblichen. Ihr Traumort ist viel bescheidener: ein Treffpunkt des freien Austauschs, jenseits des Betriebs, jenseits offizieller Prüf- und Kontrollstellen, jenseits bornierter Reformmaßnahmen - und abseits populärer Reiseziele.


Hilmar Schmundt/Milos Vec, Hildegard Westphal: Mekkas der Moderne. Pilgerstätten der Wissensgesellschaft
Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2010