Standardwerk über Kafka

Rezensiert von Edelgard Abenstein · 27.06.2006
Mit Franz Kafkas Werk, schrieb Albert Camus, werden wir "an die Grenzen des menschlichen Denkens versetzt": Der Prager Dichter war Realist und Visionär, und er schuf einzigartige literarische Bilder unserer Zeit und Existenz. Klaus Wagenbachs Monographie über den jungen Franz Kafka erscheint jetzt - nach fast 50 Jahren - in einer grundlegend überarbeiteten Neufassung.
Es kommt nicht häufig vor, dass es sich lohnt, ein 50 Jahre altes Buch wieder oder neu zu lesen, zumal wenn es sich um ein Werk der Sekundärliteratur, um eine Dissertation handelt. Meist haben solche Abhandlungen Schlacken angesetzt, sind bestenfalls als Dokumente eines aus der Mode gekommenen Zeitgeistes, eines überholten Forschungsinteresses zu studieren.


Nicht so Klaus Wagenbachs 1958 erschienene Kafka-Biographie. Schon damals muss sie in der streng werkimmanent operierenden Fachwelt wie ein Fremdkörper gewirkt haben, wie der umstürzlerische Versuch mit einer neuen Methode. Denn Wagenbach setzte sich unverblümt über die sakrosankt gehaltenen engen Grenzen der seinerzeit gültigen Betrachtungsweise hinweg.

Abgesehen davon, dass der jüdische Autor aus Prag dreißig Jahre nach seinem Tod zwar weltberühmt, in Deutschland aber weitgehend unbekannt war, kümmerte sich Wagenbach nicht um die existentialistischen Vorgaben der Zeit, nicht um die Fragen nach dem Absurden und dem Mythos vom Nichts.

Vielmehr stürzte er sich wie ein Reporter auf Archive in Prag und Israel - eine Expedition in den 50er Jahren - spürte die letzten Zeitzeugen auf, sammelte Erinnerungen, Fotos und Dokumente, Geburtsregister, Nachlässe und Personalakten, um daraus ein höchst farbiges Bild des jungen Autors zu zeichnen, seiner Vorlieben, Krisen und Leidenschaften sowie der Lebensumstände in seiner Heimatstadt Prag.

Dank des dokumentarischen Materials entwirft er ein Panorama der ersten drei Lebensjahrzehnte Kafkas, der ja wie kaum ein anderer Schriftsteller seiner Generation gerade Kindheit und Jugend verantwortlich machte für die Winkelzüge seiner literarischen Entwicklung. So stehen folgerichtig im Zentrum von Wagenbachs Analyse die sprachlichen Metamorphosen Kafkas vom unzulänglichen Pragerdeutsch über Ausflüge in einen prunkenden Stil bis zu der wortarmen, verknappten Prosa seiner ersten, 1912 erschienenen Erzählung "Das Urteil".

Klaus Wagenbachs Debüt war eine Pioniertat, sie erschien als die erste Biographie des Prager Autors nach Max Brod, dem langjährigen Freund und tapferen Vasallen an Kafkas Seite. Nun hat er seine Arbeit kritisch überprüft, ihr neue Dokumente beigefügt und sie in Kommentaren sowie mit vier Essays auf den neuesten Forschungsstand gebracht. Sie liest sich, von mancherlei altertümlichen Wendungen abgesehen, frisch wie soeben aus den Tasten gesprungen.

Schön, dass das Buch, das mit einer schmalen Auflage von 3000 Exemplaren zu einem Quellenwerk der Kafka-Forschung geworden war, jetzt einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.

Wagenbachs jugendliche Heldengeschichte ist nicht nur ein Klassiker der biographischen Literatur, es ist ein "Muss" für alle Kafka-Freunde und selbst für solche, die es eigentlich nie werden wollten.


Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Biographie seiner Jugend
Verlag Klaus Wagenbach Berlin, 2006
384 Seiten, 29,50 Euro.