Stammzellenforschung

Schon reif für die Klinik?

Von Volkart Wildermuth · 11.11.2021
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Zellen entnehmen, vermehren, trainieren und dann krankes Gewebe durch gesundes ersetzen: beim Herzinfarkt, bei Parkinson, bei Erblindung. Stammzellenforschung versprach eine medizinische Revolution. Dann wurde es still um sie. Wo steht sie heute?
Einen Saal hinter den großen Dinosaurierskeletten wird diskutiert. Am Stand des "German Stem Cell Network", des deutschen Netzwerks Stammzellforschung, sind auf großen Tafeln mikroskopische Bilder zu sehen: das grün gefärbte Fasergewirr von Nervenzellen, rote Blutkörperchen und Immunzellen, die Tumore angreifen. Der elfjährige Matthes studiert alles aufmerksam, denn er nimmt gerade an einem Quiz teil.
"Ich bin gerade bei: 'Was wird heutzutage in Forschungslaboren gemacht?'", erklärt er. Die richtigen Antworten sollen angekreuzt werden:
"Herzzellen herstellen, die transplantiert werden können. Herzzellen anregen, um Schäden am Herzen zu reparieren. Herzzellen mit Musik regenerieren? Nein!"

Zell-"Pflaster" gegen Herzschäden

Aktuell läuft in Deutschland eine Studie, die versucht, Schäden am Herzen mit einem Pflaster aus Herzmuskelzellen zu reparieren. Bei Parkinson wird die Transplantation von speziellen Nervenzellen erprobt und bei der altersbedingten Makula-Degeneration, die zur Erblindung führt, haben Retina-Pigment-Zellen Potenzial, erklärt Daniel Besser, Geschäftsführer des German Stem Cell Network:
"Da hat man schon drei, vier Patienten mit sogenannten retinalen Pigment-Epithelzellen behandelt. Man hat dann Pflaster hergestellt, die man hinten ins Auge einbringen kann und hat dadurch die Sehkraft durchaus um fünf, sechs Grade verbessern können."
Nach einer lange Durstrecke zeichnen sich konkrete Einsatzmöglichkeiten für Stammzellen ab, meint Daniel Besser. Er verweist darauf, dass auch bei der Knochenmarktransplantation dreißig Jahre zwischen den ersten Versuchen und dem klinischen Alltag lagen.

Züchtung von Hautzellen inzwischen Routine

Die Vermehrung von Hautzellen für Brandopfer oder das Züchten der Hornhaut des Auges ist inzwischen Routine. In den Laboren wird aber noch an vielen weiteren Anwendungen geforscht, denn Stammzellen haben gegenüber herkömmlichen Medikamenten zwei Vorteile, so Michael Schmück-Henneresse.
"Diese Zellen können dann langfristig im Patienten agieren und müssen nicht wie bei der Chemotherapie permanent gegeben werden. Der zweite ist vor allem auch, dass das gezielt ist, also hoch spezifisch."
Am Berlin Institute of Health erforscht er gleich mehrere Ansätze, bei denen den Patienten erst Blutstammzellen entnommen und dann gezielt Immunzellen mit ganz bestimmten Eigenschaften vermehrt werden. Etwa solche, die verhindern, dass das Abwehrsystem körpereigenes Gewebe angreift.
Die sogenannten regulatorischen Zellen könnten im Rahmen einer Organtransplantation wichtig werden, vielleicht einen Teil der nebenwirkungsreichen Medikamente ersetzen, die das fremde Organ vor einer Abstoßung schützen.
"Wir haben vor Jahren gedacht, man könnte von dem Patienten selbst diese regulatorischen Zellen, das sind regulatorische T-Zellen, selektieren, dann wieder eine Armee draus machen in Kultur, also ganz viele – und die dann den Patienten geben."
So sollte sich das Abwehrsystem gezielt herunterregeln lassen. Tatsächlich funktioniert die Zelltherapie parallel zur Organtransplantation:
"Da haben wir gerade ganz tolle Daten publiziert, von nierentransplantierten Patienten. Und dabei sehen wir, dass diese Zellen dazu führten, dass die Immunsuppression in den Patienten verringert werden konnte. Und das assoziiert dann natürlich auch mit einem hoffentlich verlängerten Transplantatüberleben."

Modifizierte Stammzellen eliminieren Tumore

Michael Schmück-Henneresse arbeitet auch an gentechnischen Verfahren, die die Stammzellen noch wirksamer machen sollen. Bereits zugelassen sind sogenannte CAR-T-Zell-Therapien. Hier werden Antikörper gegen Tumore genetisch mit Killerzellen kombiniert.
"Man hat quasi ein Mischwesen aus einem Antikörper und einer T-Zelle. Damit kann die T-Zelle einen Tumor erkennen, was sie vorher nicht konnte. Sie kann hoch spezifisch damit Tumorzellen eliminieren."
Kompliziert, aber effektiv. Der Wow-Faktor kann aber auch missbraucht werden. Es gibt im Internet viele Angebote, die wahre Wunderheilungen mit Stammzellen versprechen: für Autismus, für Alzheimer, für Muskelschwund. Verzweifelte Patienten bezahlen viel Geld und bringen sich zum Teil auch in Gefahr.
"Wir haben zum Beispiel Fälle, wo Leute Krebs entwickelt haben", sagt Daniel Besser. "Es gibt drei Patienten in Florida, die im Auge behandelt worden sind und blind geworden sind, nachdem sie mit solchen Stammzellen behandelt worden sind."
Daniel Besser rät, in eine Broschüre des Stammzell-Netzwerks zu schauen, die hilft, seriöse Therapie zu erkennen.

Fester Bestandteil der medizinischen Forschung

Scharlatane sind aber eher eine Randerscheinung. Es gibt etliche in Studien bewährte Stammzelltherapien und auch viele normale Medikamente werden inzwischen mit Hilfe von Stammzellen entwickelt.
"Wenn wir diese Ursprungszellen haben, diese potenten Zellen, dann können wir daraus dreidimensionale Körperchen herstellen, sogenannte Organoide, die verschiedene Organe darstellen. Und an diesen Organoiden kann man dann auch Medikamente testen oder auch verstehen, wie bestimmte Krankheiten entstehen."
Aus der Forschung und in immer mehr Feldern der Medizin sind Stammzellen nicht mehr wegzudenken.
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