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Ralph Dutli: Die Liebenden von Mantua
Ein Roman voller Träume

Ralph Dutli ist ein Autor, der nicht leicht zu fassen ist: Er hat Biografien geschrieben, aber auch eine Kulturgeschichte der Olive, außerdem Lyrikbände und Essays vorgelegt. Jetzt ist sein zweiter Roman erschienen, "Die Liebenden von Mantua". In dessen Mittelpunkt steht ein sensationeller Fund der archäologischen Forschung.

Von Ulrich Rüdenauer | 09.12.2015
    "Ein Roman ist (...) auch aus Krisen und Verzweiflung und Schlaflosigkeit gewoben", sagte der Essayist, Übersetzer, Lyriker und Biograf Ralph Dutli bei einer Dankrede für einen Preis, der ihm für seinen Roman "Soutines letzte Fahrt" verliehen wurde. Der Roman ist eine Wundertüte, in die - zumindest bei einem so vielseitigen Autor wie Ralph Dutli - einiges einfließen kann. Aber auch für einen Sprachakrobaten wie Dutli ist diese Form durchaus eine Herausforderung:
    "Der Roman will erobert werden. Er gibt sich nicht einfach so her. Und das ist ein langer Weg, und den muss man durchstehen."
    Diesen langen Weg ist Ralph Dutli mit "Die Liebenden von Mantua" nun zum zweiten Mal gegangen.
    "Ein Roman ist eine Suche, ein Weg. Am Anfang steht nur eine Idee, aber nachher geht es auf Zickzacklinien weiter. Es ist ganz bestimmt kein gerader Weg, es braucht Kurven, Abwege, Seitenstränge, die vielleicht am Schluss wieder rausfallen. Aber erst einmal muss man sich dieser Macht, dieser geheimen Macht des Romans aussetzen wollen. Und dann mal schauen, was kommt."
    Roman: rätselhafte Euphorie, Renaissance als Risiko. Roman: Honigwabe. Aus einer ihrer Wabenzellen werden die Liebenden von Mantua schlüpfen. Leichte, luftige Bienen. Goldene Seelen-Bienen. Ja, der Roman summt, er summt wie ein Bienenstock von den Stimmen, die seine sind, die nicht seine sind. Lauter lallende verlorene Seelen.
    "Ich hab viel Lyrik geschrieben, viel Essays geschrieben, ich finde den Roman schon ein sehr faszinierendes Genre, weil er so offen ist für so vieles. Manchmal gibt es lyrische Passagen, manchmal gibt es essayistische Passagen, er freut sich natürlich über Handlungselemente, einen Plot. Und all das kann man aber zusammenbringen, er ist eigentlich ein universales Genre, wo alles möglich ist.
    Ralph Dutli hat eine romantische Auffassung vom Roman - Literatur als Universalpoesie. Das passt nicht schlecht zu seinem neuen Buch, in dessen Mittelpunkt ein sensationeller, zu allerlei Fantasien anregender Fund der archäologischen Forschung steht:
    "Ja, tatsächlich, am Anfang ist immer irgendein realer Kern, eine Grundidee, wo man denkt, da könnte was dahinter stecken. Und tatsächlich ist diese Entdeckung aus dem Jahr 2007, als bei Mantua ein jungsteinzeitliches Liebespaar ausgegraben wurde, das sich umarmt, das gemeinsam bestattet wurde, das ist ein ganz ganz seltener Grabfund. Aus der Jungsteinzeit kennt man Einzelbestattungen, Kollektivbestattungen usw., aber diese Paarbestattung ist ganz außergewöhnlich. Und dann gingen 2007 Meldungen um die Welt, "Romeo und Julia aus der Jungsteinzeit" und solche Sachen, und das hatte an sich schon etwas Romaneskes."
    Vom Tod, von der Erinnerung, vom Eigenleben der Träume
    Ein Schriftsteller namens Manu reist nach Mantua, um dem Geheimnis dieses ineinander verschlungenen Paares auf die Schliche zu kommen.
    "Ich will herausfinden, was hinter ihrer Geschichte steckt(). Wurden sie von ihren Clans geopfert, zur Versöhnung der Lebenden oder der Götter, oder waren sie Opfer einer Racheaktion, waren sie Selbstmörder, haben sie irgendwelche Pflanzensäfte getrunken, um gemeinsam dort hinüber zu gelangen? Konnten die Menschen ihnen nicht verzeihen, dass sie glücklich waren? Starb er zuerst, wurde sie getötet und in seine Arme gelegt? Ein ritueller Witwentod, bei dem nach dem Ableben des Gatten die Frau getötet und mit ihm ins Jenseits geschickt wurde?"
    Was sich anhört wie der Versuch, ein kriminalistisches Rätsel zu lösen, ist in Wahrheit eine Suche nach dem Wesen der Liebe – auch nach einer verlorenen Liebe, die in Manus Gedanken weiter Platz beansprucht. "Die Liebenden von Mantua" handelt von einer Utopie, aber auch vom Tod, von der Erinnerung, vom Eigenleben der Träume – surreale Momente lassen die Geschichte immer wieder wie hinter einem Vorhang erscheinen, durch den die Dinge nur schemenhaft zu erkennen sind. Das Zentralsymbol ist aber das untrennbare steinzeitliche Paar, das man glaubt lächeln und sich seit 6.000 Jahren zulächeln zu sehen. Es gibt noch viele weitere Paarkonstellationen in diesem Buch. Nicht zuletzt lesen wir von einem Freundschaftspaar, das sich in der Stadt Mantua nach langer Zeit wiederbegegnet.
    "Merkwürdig, dass wir uns hier in Mantua treffen. Eine völlig andere Stadt, in der ich vorher nie war, du schaust zufällig zur Seite und in eines der Gesichter auf dem Platz vor dem Café Miró, das Gedächtnis zögert nur eine Sekunde lang, rüttelt ein bisschen und spuckt dir schon den Namen aus. Das ist doch ... kaum zu glauben ... doch ... er ist es ... aber sicher. Wir werden älter, aber unsere Gesichter erinnern sich noch vage an uns."
    Raffa heißt der Freund aus alten Tagen. Auch er ist wie Manu nach Mantua gekommen, um zu recherchieren. Treibt den einen die Sehnsucht danach, das Geheimnis der Unzertrennlichen zu lüften, kommt der andere wegen eines Risses, der durch die Stadt geht: Vor genau einem Jahr – Dutlis Geschichte spielt 2013 – hat ein Erdbeben die Region erschüttert. Vielen Gebäuden sieht man noch immer die Beschädigungen an, und Raffa soll für eine Zeitung einen Zustandsbericht schreiben. Liebe und andere Katastrophen:
    "Der eine ist der Liebesgott, der andere ist der Erdbebengott. Und so wie sich in einem Roman eben mehrere Stränge allmählich strenger zusammenfinden, geht eben durch den Roman hindurch dieses Erdbebenthema und dieses Liebesthema. Und vielleicht ist ja die Liebe in unserem Leben eine Art Erdbeben, die das Bisherige und Festgeklopfte erschüttern kann. Und eben vielleicht Risse in ein Leben bringt. Und das Thema des Risses ist ganz wichtig in diesem Roman. Er taucht immer wieder auf, der Riss."
    Eine weitere zentrale Figur ist ebenfalls gezeichnet – zerrissen und ungetröstet nach dem Tod seiner Geliebten. Der Conte, so wird er genannt, wird von Dutli fast als Karikatur eines Renaissancefürsten entworfen: Er lebt auf einem Schloss, ist selbstherrlich und schier allmächtig, er träumt davon, eine neue Liebesreligion zu erschaffen, deren Symbol nicht mehr der Gekreuzigte, sondern das innig sich umarmende Steinzeitpaar sein soll. Der Conte verkörpert ein heidnisches Christentum oder ein christliches Heidentum, und wie jede Religion neigt auch seine zur Gewalt, wenn es um die Durchsetzung des eigenen Glaubens geht. Der Conte lässt nicht nur den Grabfund stehlen, sondern obendrein noch Manu entführen. Der soll ihm nämlich – jede Religion braucht ja eine Bibel – eine heilige Schrift zur neuen Liebeslehre verfassen.
    "Und er gebärdet sich da als – nicht nur als Religionsgründer, sondern als ein Mensch, dem alles zur Verfügung steht, und das Renaissancegefühl wollte ich in mehreren Kapiteln schildern, was ist das, was bedeutet das, diese Wiedergeburt, wo der Mensch sich seiner Möglichkeiten, seiner Kräfte, seiner Fantasie vergewissert und das alles drängt zum Leben, ist eine vitale Epoche, und die spiegelt sich (...) auch in dieser, wenn auch persiflierten Renaissancegestalt des Conte."
    "Lust am Experimentieren"
    Die Abwesenheit von Religion treibt den Conte an und zu abscheulichen Taten. Aber auch alle anderen Figuren des Romans scheinen, von Gott verlassen, das Metaphysische zu vermissen; ein Phantomschmerz plagt sie gehörig. Die frühere Freundin von Manu bringt es auf den Punkt:
    "Er erinnert sich jetzt deutlich an Laures Bemerkung: Weißt du, was du mit Raffa gemeinsam hast? Das fehlende »el«, das ihr an eurem Namensende abgetrennt habt. Es bedeutet Gott. Ihr seid euch einig, das Element in eurem Namen zu amputieren, um fortan nur zweisilbig durch die Welt zu gehen, von Gott amputiert, entwöhnt, befreit."
    Die Kulisse für Ralph Dutlis Roman ließe sich besser nicht ersinnen: Mantua scheint der ideale Ort für all die Fantasien, Träume, Liebesutopien.
    "Das ist ja nicht nur eine Renaissance-Stadt, es ist eine Stadt, wo ganz große Maler gemalt haben. Andrea Mantegna zum Beispiel. Es ist die Stadt Vergils, des antiken Dichters Vergil. Es ist eine Stadt, wo Kabbalisten gelebt haben, Alchemisten gelebt haben."
    Der entführte Manu wird in einem luxuriösen Kerker gefangen gehalten: köstliche Mahlzeiten, gelehrte Dispute mit dem Conte und eine faszinierende Bibliothek, die allerdings die merkwürdige Angewohnheit hat, immer wieder den Raum zu wechseln und nach und nach ganz zu verschwinden. Das hat etwas Fantastisches, Alptraumhaftes. Das Eingesperrtsein in der Bibliothek, die unwirkliche Situation, die Manie des Conte erscheinen als Bild für den Prozess des Schreibens überhaupt. Am Anfang gibt es noch die Überfülle an Material, in deren Schuld der Autor Manu steht – dann aber, im Lauf der Zeit, verschwindet die Bibliothek, und der Autor ist ganz auf sich gestellt. Der Roman ist auch ein Roman über den Wahnsinn des Romanschreibens.
    Dutlis Buch reflektiert sein Entstehen also gleich mit. Und es greift dabei auf unterschiedlichste Formen zurück. Aber auch auf unterschiedliche Rhythmen. Hat die Erzählung zu Anfang noch eine gewisse Dynamik, so gibt es einen fast zeitlupenhaften, träumerischen, reflexiven Mittelteil – eine "Zeitspalte" –, bis sich am Ende die Geschichte in einer Art Showdown wieder beschleunigt.
    "Es ist für mich immer auch eine Lust am Experimentieren mit Motiven, was findet zueinander, was trennt sich, welche Stränge werden plötzlich unverhofft verknüpft. Es ist natürlich stellenweise auch ein sehr lyrischer Roman, und ein Roman voller Träume. Und ein paar gute Formulierungen will man dann als Schriftsteller natürlich auch finden zu dem betreffenden Thema."
    Das ist Ralph Dutli in diesem vielschichtigen, von poetischen Bildern beherrschten, kulturgeschichtlich lehrreichen Roman gelungen. "Die Liebenden von Mantua" ist ein Ausflug in die Renaissance, die bis in die Jetztzeit hineinzuragen scheint – Vergangenes und Gegenwärtiges umschlingen sich darin so innig und zärtlich wie das steinzeitliche Liebespaar.
    Ralph Dutli: Die Liebenden von Mantua. Roman. Wallstein Verlag. 276 Seiten. 19,90 Euro.