Stadt - Land - Fluss

Von Regina Kusch und Andreas Beckmann · 18.05.2013
Jedem steht heute die Welt offen, niemand muss mehr dort bleiben, wo er geboren wurde. Aber viele können auch nicht bleiben, wo sie heimisch wurden, der Alltag zwingt zu immer mehr Flexibilität. Die "Lange Nacht" stellt Menschen aus Deutschland vor, deren Lebensmodelle irgendwann infrage standen, bis sie den richtigen Platz dafür gefunden haben.
In der Stadt, auf dem Land oder auf dem Wasser: den Solar-Visionär, den es aus seinem Berliner Hinterhoflabor in die ostdeutsche Provinz verschlug. Den Arzt, der die Landpraxis der Wissenschaftskarriere vorzog und heute jeden Tag mit einem klaren "Ja" beendet.

Den Binnenschiffer, der schon in vierter Generation auf dem Rhein unterwegs ist, aber die Romantik längst nicht mehr sucht. Die Bürgermeisterin, die ihre Stadt entgiftet hat und jetzt schon wieder um ihre Zukunft kämpfen muss.

Den Bauern, der seine Scholle aufgab, um Landwirt bleiben zu können.

Eine "Lange Nacht" von Brüchen und Aufbrüchen, von vorgezeichneten Wegen und überraschenden Perspektiven, von glücklichen und unglücklichen Zufällen, vom Suchen und Finden, von Orten zum Leben.

Auszug aus dem Manuskript:

"Das Motorengeräusch. Ja, also einfach die Musik, die so ein Schiff macht. Ich hatte mein Kinderbett direkt am Maschinenschacht, das heißt es war auch mein Einschlafgeräusch. Ich habe heute noch, wenn ich nicht einschlafen kann, auf meinem MP3-Player, das Maschinengeräusch von unserem Schiff, das hat mein Vater mal aufgenommen und das brauche ich nur einschalten und fünf Minuten, dann bin ich weggeschlummert. Ich weiß nicht, wann ich an Bord gekommen bin, mit wenigen Wochen, wenigen Monaten, auf jeden Fall noch bevor ich mich an etwas erinnern kann."

Heinz-Christian Wilkens ist auf der "Christa-Anita" groß geworden, einem Binnenschiff, mit dem seine Eltern auf der Weser unterwegs waren, auf dem Rhein oder dem Mittellandkanal. Auf den stählernen Planken dieses Frachters hat er laufen gelernt.

"Es gibt Bilder, wo ich dann auf dem Schiff angeleint spazieren gehe, das war immer die große Gefahr, das wir als Nichtschwimmer-Kinder über Bord fallen könnten und ertrinken konnten und deswegen wurden wir immer angeleint oder andere Binnenschiffe waren auch mit großen Käfigen ausgestattet, wo sie dann ihre Kinder drin hatten, also richtig wie ein größerer Hundekäfig, einfach aus Angst, dass die Kinder über Bord fielen."

Die Leine war irgendwann los, aber dann kam die Schwimmweste, klobig und schwer, sodass der kleine Knirps ständig ins Schwitzen kam. Mit fünf Jahren durfte Heinz-Christian Wilkens sie endlich ablegen, aber erst, nachdem er seinem Vater gezeigt hatte, dass er einmal quer durch den Mittellandkanal und wieder zurück schwimmen konnte. Von da an war sein Spielplatz das 50 Meter lange Lukendach über den fünf Laderäumen, in denen Getreide und Papier oder häufiger noch Kies und Kohlen transportiert wurden.

Heinz-Christian Wilkens
"Bei Vadder an Bord"
Kindheit auf dem Binnenschiff
(antiquarisch erhältlich)


In dem vorliegenden Buch "Bei Vadder an Bord" erzählt Heinz-Christian Wilkens von seiner Kindheit auf dem Binnenschiff. Es ist ein sehr persönlicher Bericht, der die schwierigen Lebensbedingungen auf dem engen Raum eines Weserkahns, die zwischenmenschlichen Probleme der Besatzungsmitglieder und die Erlebnisse eines Binnenschifferkindes in den großen Überseehäfen Westeuropas anschaulich beschreibt und mit zahlreichen Fotos aus dem Familienalbum illustriert. Aber auch fröhliche Sommerferien auf Flüssen und Kanälen, der Badespaß im Hafenbecken und das Ankerlichten bei Sonnenaufgang werden dem Leser so lebendig und hautnah dargestellt, dass er den Eindruck hat, selbst dabei gewesen zu sein. Das Buch gibt Einblick in eine Welt, die den meisten Menschen verborgen bleibt.

Besonders spannend war es immer, wenn das Schiff abends im Dunkeln in einem fremden Hafen festmachte. Dann wusste er nie, was ihn am nächsten Tag erwartete, vielleicht Schiffe, wie er sie noch nie gesehen hatte oder Menschen, die eine fremde Sprache sprachen. Wenn später die Ladung gelöscht und neues Frachtgut an Bord genommen war, ging es wieder weiter, tagelang in gemächlicher Fahrt über Flüsse und Kanäle durch die unterschiedlichsten Landschaften. Heinz-Christian Wilkens hat das abwechselungsreiche Leben genossen. Es präge ihn bis heute, sagt er. Er könne sich sehr gut auf neue Situationen und fremde Menschen einstellen. Die "Christa-Anita" war für ihn der richtige Ort, um erwachsen zu werden. Doch als er als junger Mann anfing, über seine Zukunft nachzudenken, da war er sich sicher, dass sie nicht auf einem Schiff liegen würde.

"Ich glaube, dass ich einfach gemerkt habe, dass Binnenschifffahrt mit sehr viel Abschied verbunden ist. Dass ich dieses immer wieder Abschied nehmen, dieses sich Trennen von Menschen, dass ich das nicht haben wollte. Dass ich eine Idee, eine Vorstellung von Familie hatte, wo die Familie zusammen ist, wo sie also nicht auf ein Familienmitglied verzichten muss, wo Vater, Mutter oder die Kinder, wo sehr viel getrennt gelebt wird und dadurch auch sehr viele Probleme entstanden sind, Missverständnisse entstanden sind, die zumindest in meiner Art von Familienplanung keinen Platz hatten."


Monika Maron
Bitterfelder Bogen
Ein Bericht.
Mit Fotos v. Jonas Maron
2009 Fischer (S.), Frankfurt


Von Bitterfeld, einst Synonym für marode Wirtschaft und verkommene Umwelt, zum Industriepark Bitterfeld-Wolfen: Monika Maron erzählt von der Wiederauferstehung einer Region, vom Aufbruch einer Handvoll Solar-Enthusiasten und wie aus einer kleinen Solarzellenfabrik Solar Valley wurde.

B. ist die schmutzigste Stadt Europas«, schrieb Monika Maron in ihrem Debütroman Flugasche (1981). B. steht für Bitterfeld, bis heute ein Synonym für marode Wirtschaft und verkommene Umwelt. Dreißig Jahre später hat sie die Stadt wieder besucht und die Spur der Veränderungen nachgezeichnet. Sie erzählt von der Wiederauferstehung einer Region, vor allem aber vom Aufbruch einiger Kreuzberger Solarenthusiasten in die Provinz Sachsen-Anhalts, wo sie eine Solarzellenfabrik mit 40 Arbeitsplätzen bauen wollten. Nur acht Jahre später ist Q-Cells der größte Solarzellenhersteller der Welt. Aus der kleinen Solarzellenfabrik ist 'Solar Valley' geworden.

Auszug aus dem Manuskript:

"Ich hatte ein Bild im Kopf, ein schwarzes, verrußtes, rostfarbenes, dreißig Jahre altes Bild. Wo war das Schwimmbad, dem die Landschaftsgestalter damals einen himmelblauen Anstrich verordnet hatten, in Ermangelung eines himmelblauen Himmels? Wo war der Konsum, in dem sie mir erzählt haben, dass die Leute hier am Liebsten weiße Pullover kaufen? Schwarz und verrußt war nichts mehr, die Häuser gestrichen, die Rohrbrücken über der Straße nicht mehr rostig, sondern auffallend farbig in Gelb und Türkis. Nur der Kulturpalast in unverkennbarer Eindeutigkeit da, wo er auch in meiner Erinnerung hingehörte. Sonst fand ich nichts oder konnte mich nicht erinnern, nach mehr als dreißig Jahren, in denen mich nichts hierher gezogen hat, obwohl ich damals mit dieser Stadt ein Bündnis eingegangen war, das mein Leben verändert hat."

Monika Maron hat ein zweites Buch über die Stadt geschrieben: "Bitterfelder Bogen". Es erzählt von der Wiedergeburt jenes Orts, den sie einst in "Flugasche" als "die schmutzigste Stadt Europas" bekannt gemacht hatte. Im Mittelpunkt steht die Geschichte der Firma Q-Cells, die binnen acht Jahren aus dem Nichts zum größten Solarzellenproduzenten der Welt aufstieg.


Monika Maron
Flugasche
2009 Welt Edition


"Flugasche" ist keine Metapher. 180 Tonnen davon schleudert das Kohlekraftwerk in B(itterfeld) täglich auf die Stadt und ihre Menschen. Die Reportage der Journalistin Josefa Nadler, die diese Zusammenhänge aufdeckt, darf in der damaligen DDR (1981) nicht erscheinen. Nach dem Verbot verlässt Josefa den Freund, den Kollegenkreis und die große Gemeinschaft der Organisierten. Der andere Teil der Geschichte ist Josefas private Geschichte. Die junge Reporterin schwankt ständig zwischen Sehnsucht nach Geborgenheit und Freiheit und einer immerwährenden Angst vor Einsamkeit und Zwang. Wie leben, dass man sich selbst, seinen Gefühlen und seinen Ansprüchen gerecht wird?

Barbara Schaefer, Katja Trippel
Stadtlust
Vom Glück, in der Großstadt zu leben

2013 Blanvalet
Die Landlust-Illusion enttarnt

Draußen auf dem Land, zwischen Rüben und Rhododendren, ist die Welt eine bessere? Von wegen! Nur die Stadt bietet angesagte Kneipen und Kinderkrippen, Jobs und Junkfood ebenso wie Biogemüse, Bus und Bahn und Bibliotheken. Mögen uns noch so bunte Hochglanzmagazine in Millionenauflage ein Landidyll vorgaukeln die Realität sieht anders aus: von Vielfalt und Flexibilität keine Spur. Barbara Schaefer und Katja Trippel lieben das urbane Gewusel so sehr wie die stille Parkbank. Sie wohnen mittendrin und sie singen das Hohelied auf ein Leben in der Stadt.

Leseprobe aus "Stadtlust - Vom Glück, in der Großstadt zu leben" (Barbara Schäfer, Katja Trippel)
Cover: "Monika Maron: Bitterfelder Bogen"
Cover: "Monika Maron: Bitterfelder Bogen"© S. Fischer Verlag