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Grossbritannien
"Wirtschaft hat kein Interesse an einem EU-Austritt"

Die Börse jubelt über den Wahlsieg der Tories. "Sie bekommt durch die schnelle Regierungsbildung erst einmal Stabilität und weniger Regulierung", sagte der Politikwissenschaftler Roland Sturm im DLF. Die Wirtschaft müsse sich jetzt für den Verbleib in der EU starkmachen - ansonsten drohe ein hoher volkswirtschaftlicher Schaden.

Roland Sturm im Gespräch mit Silke Hahne | 08.05.2015
    Finanzzentrum City of London mit 30 St Mary Axe Hochhaus (the Gherkin)
    Finanzzentrum City of London (Daniel Kalker, dpa picture-alliance)
    Silke Hahne: Überraschend deutlich haben die Konservativen in Großbritannien die Parlamentswahlen gewonnen: mit absoluter Mehrheit nämlich. Und welche Auswirkungen das auf den Sozialstaat und die Wirtschaftspolitik hat, darüber will ich jetzt mit Roland Sturm sprechen. Er ist Politikwissenschaftler an der Universität Erlangen-Nürnberg und beschäftigt sich unter anderem mit der britischen Wirtschaftspolitik. Herr Sturm, die Tories haben im Wahlkampf angekündigt, sie wollen das Staatsdefizit abbauen. Das geht nur über mehr Einnahmen und oder weniger Ausgaben. Jetzt haben die Tories aber auch versprochen, der Steuerfreibetrag soll angehoben werden. Das heißt, wen trifft diese Politik?
    Roland Sturm: Das Jahresdefizit soll ja am Ende der Legislaturperiode in fünf Jahren beendet sein. Es ist gleichzeitig aber auch einiges versprochen worden an Ausgaben. Das haben Sie ja schon gesagt. Aber es kommt noch einiges hinzu: Auch beim Mindestlohn soll es Steuererleichterungen geben und andere Dinge. Gleichzeitig gibt es Bereiche wie den National Health Service, der auch ausgebaut werden soll und nicht angetastet werden soll, ein großer Brocken im Haushalt. Das heißt, die anderen Bereiche müssen sehr viel stärker gekürzt werden. Das ist vor allem der Sozialhaushalt und da rechnet man mit bis zu 20 Prozent Kürzungen jedes Jahr. Das ist eine sehr grobe Schätzung, weil die Regierung vorher war ja eine Koalitionsregierung und die kann man nicht vergleichen mit allein regierenden Konservativen.
    Hahne: Wird das denn durch Maßnahmen am Arbeitsmarkt zum Beispiel wieder ausgeglichen?
    Sturm: Die Hoffnung ist, dass durch den Arbeitsmarkt vieles aufgefangen wird, weil die Wirtschaft ja im Augenblick wächst, und man möchte auch Anreize geben für zum Beispiel Jugendliche, sich ausbilden zu lassen in Lehrlingsberufen und Ähnlichem. Ob das reicht, weiß man nicht, weil die Jobs, die entstanden sind, meistens solche sind, die im Niedriglohnbereich sind und wo wenig Steuern gezahlt werden, und damit hat der Staat wenig Einnahmen und ist der Haushalt schwer auszugleichen.
    Hahne: Das heißt, ich höre da heraus, Sie befürchten gewisse soziale Härten. Von der Börse in London hören wir jetzt heute Freude über den Wahlsieg. Ist sie aus Sicht der Wirtschaft denn wenigstens berechtigt?
    Sturm: Die Börse hat zwei Dinge bekommen. Die Stabilität, sehr schnelle Regierungsbildung. Das war ja die große Furcht, dass man ewig herumverhandeln muss, bis man mal eine Regierung findet. Und zum zweiten auch weniger Regulierung, wie das bei Labour der Fall gewesen wäre.
    Hahne: In einem Punkt, da sind die Tories sich untereinander nicht ganz einig, und das ist die außerordentlich wichtige Frage nicht nur für Großbritannien: EU-Mitgliedschaft ja oder nein. David Cameron hat versprochen, es wird ein Referendum geben. Was heißt das Wahlergebnis denn für das Kräfteverhältnis dieser beiden Gruppen in der Partei?
    Sturm: Es wird sicher ein Referendum geben und es wird dann schwieriger eigentlich, als man es jetzt auf den ersten Blick meinen könnte, weil ja die Konservativen gewonnen haben. Aber wir haben das schon mal erlebt in der Regierungszeit John Majors. Es gibt eine handfeste Gruppe - ich kann die Zahl jetzt nicht genau nennen -, sagen wir mal ein Drittel der Abgeordneten, die vielleicht lieber sofort abstimmen würden über den EU-Austritt, und da wird ein ständiger Druck sein auf Cameron, zu verhandeln und das schnell zu tun. Und die Konservativen überlegen gerade, wer soll denn eigentlich jetzt diese Wirtschaftsthemen verhandeln, und die EU-Kommission hat ja auch schon gesagt, man muss schauen, ob man irgendwas findet, wo man eventuell entgegenkommen kann. Das Problem ist nur: Einseitige Veränderungen sind Europa, wo alle 28 eigentlich zustimmen müssen, sehr schwer.
    Hahne: Die Wirtschaft hat ja eigentlich kein Interesse an einem Austritt. Allerdings muss man sagen, die Verbände dort tragen auch nicht so stark zur Willensbildung bei wie bei uns. Ist das der Grund, warum sich die Wirtschaft bisher zurückgehalten hat mit Äußerungen zum EU-Austritt, zu einem möglichen, und muss sie das jetzt stärker tun?
    Sturm: Es schien ja alles offen zu sein und eigentlich nicht so klar, ob das Thema überhaupt kommt. Wenn Labour gewonnen hätte, wäre es ja nicht gekommen. Aber jetzt ist die Situation eigentlich ganz deutlich. Es wird Veränderungen geben. Die Wirtschaft weiß, dass sie das nicht aushalten kann, wenn Großbritannien austritt, und es bleibt der Wirtschaft nichts anderes übrig, wie heftig den Ja-Wahlkampf, Verbleiben in der EU zu finanzieren, damit die Kräfteverhältnisse einigermaßen gleich sind, denn es bedarf großer Überzeugungsarbeit, weil die Bevölkerung in Großbritannien erst mal, wenn sie nicht viel nachdenken würde oder nicht informiert wäre, mit großer Mehrheit für Austritt wäre.
    Hahne: Rechnen Sie auch damit, dass die Wirtschaft das tun wird?
    Sturm: Ja sicher. Da bin ich ziemlich sicher. Das schadet ihnen ja ansonsten und sie hätten Verluste. Es wurde ja auch ausgerechnet, tausend Pfund oder was im Monat - mit den Zahlen bin ich nicht ganz sicher - pro Person oder so. Das wurde schon runtergerechnet. Es gibt einen hohen volkswirtschaftlichen Schaden, das ist völlig klar, und das würde man nicht machen. Alternativ kann man natürlich immer noch Headquarters verlegen, aber das ist für Großbritannien natürlich auch keine schöne Aussicht. HSBC hat schon damit gedroht.
    Hahne: ... sagt Roland Sturm, Politikwissenschaftler an der Universität Erlangen-Nürnberg. Vielen Dank für das Gespräch über die wirtschaftspolitischen Auswirkungen der Wahl in Großbritannien.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.