Stadt der zwölf Hügel

Von Leonie March · 17.10.2011
Die madagassische Hauptstadt Antananarivo wurde auf mehreren Hügeln angelegt. Ganz oben liegen die Paläste der ehemaligen Könige. Der soziale Status der Einwohner lässt sich daran festmachen, wie hoch ihr Wohnort gelegen ist - und die sozialen und wirtschaftlichen Probleme sind gewaltig.
Madagaskar ist keine Blumeninsel, aber ein Paradies für Tier- und Pflanzenliebhaber mit einer einzigartigen Flora und Fauna. Der zweitgrößte Inselstaat der Welt, hat sich vor Jahrmillionen vom Festland abgetrennt und so seine reiche Tier- und Pflanzenwelt entwickelt.

Bis vor knapp drei Jahren hat sie Touristen angelockt, eine der wichtigsten Einnahmequellen des Landes. Dann wurden die von einer politischen Krise verschreckt, der die wirtschaftliche im ohnehin von Armut gebeutelten Inselstaat folgte. In einer Art Putsch wurde der damalige, demokratische gewählte Präsident aus dem Amt gedrängt. Seitdem haben immer wieder Demonstrationen und gewalttätige Auseinandersetzungen die madagassische Hauptstadt erschüttert. Jetzt soll eine Vereinbarung zwischen Regierung und Opposition den Weg zu Neuwahlen und damit zu einer Beruhigung der Lage ebnen.

Majestätisch thront der Palast der Königin über der Stadt. Ein dreigeschossiges Gebäude im Stil französischer Kolonialherren mit Ecktürmen, Rundbögen und Schieferdach. Erbaut auf dem höchsten der zwölf Hügel Antananarivos. Von hier aus gibt es den besten Ausblick auf die Hauptstadt Madagaskars: Häuser schmiegen sich eng aneinender, verbunden durch zum Teil kopfsteingepflasterte Gassen und Straßen, im Zentrum ein See, an den Stadträn-dern schimmern grüne Reisfelder.

Friedlich, ja idyllisch erscheint die Zwei-Millionen-Metropole von hier oben, meint die Geschäftsfrau Hely Rakotomanantsoa. Sie sitzt in einem kleinen Restaurant im Stil einer französischen Brasserie, nur ein paar Stufen unter-halb der Palastanlage.

"Antananarivo war einmal ein riesiges Sumpfgebiet. Zu Beginn waren nur die Hügel bewohnbar. Hier lebte der König mit seiner Familie. Während der Kolonialzeit wurde dann auch die Mittelstadt besiedelt, die Sümpfe wurden Schritt für Schritt trockengelegt. So entstand die Unterstadt, die als Gewerbe-gebiet genutzt wurde."

Von dort aus hat sich Hely Rakotomanantsoa buchstäblich hochgearbeitet. Geboren in ärmlichen Verhältnissen der Unterstadt, führt sie nun ihr eigenes Tourismusunternehmen und ihr eigenes Hotel, das schicke Island Continent. Es liegt in mittlerer Lage, fügt sie lächelnd hinzu. Denn der soziale Status lässt sich bis heute an der Höhe des Wohnortes festmachen.

"In der Oberstadt kann man kein Land mehr erwerben. Die Häuser gehören in erster Linie den Nachfahren der Königin und sehr reichen Leuten. Die Mittelstadt ist eine ziemlich schicke Gegend. Wer dort ein Haus erwerben möchte, muss auch recht wohlhabend sein. In der Unterstadt ist dagegen Platz für jeden."

Je weiter Hely Rakotomanantsoa die engen, zum Teil steilen Straßen von der Palastanlage nach unten in Richtung Mittelstadt fährt, desto dichter wird der Verkehr. Französische Autos, die in Europa Oldtimerstatus haben, bestimmen das Stadtbild. Auch die Architektur trägt den Stempel der französischen Kolonialherren: Der Präsidentenpalast sieht mit seiner roten Backsteinfassade und dem verzierten Schieferdach aus wie ein kleines Chateau, bewacht von bis an die Zähne bewaffneten Soldaten. Hier regiert der ehemalige Bürgermeister Antananarivos, Andry Rajoelina, seit er sich im Frühjahr 2009 mit Hilfe des Militärs an die Macht geputscht hat.

Neben den Regierungsgebäuden bestimmen exklusive Einkaufsstraßen die Mittelstadt: In den Schaufenstern der teuren Boutiquen hängt exklusive Pari-ser Mode, in kleinen Bäckereien werden Baguette und Petit Fours angeboten.

Aber auch der asiatische Einfluss ist in Antananarivo unübersehbar. So wie Geschäftsfrau Hely Rakotomanantsoa, stammt die Mehrheit der Bevölkerung von den ersten Siedlern ab, die die Insel etliche Jahrhunderte vor den Fran-zosen von Malaysia und Indonesien aus erreichten.

"Unsere Hauptstadt ist ein kultureller Schmelztiegel, mit afrikanischen, asiatischen und französischen Anteilen. Hier auf dem Plateau der Insel ist der asiatische Einfluss beherrschend, an der Küste dagegen der afrikanische. In unserem Land findet man also sowohl Afrika als auch Asien wieder."

Die Hotelbesitzerin biegt in eine schmale Gasse ein. Eine breite Treppe führt von dort nach unten und gleichzeitig auf eine sichtbar niedrigere soziale Gesellschaftsebene. Viele Einwohner haben vor ihren Häusern kleine Bretterverschläge zusammengezimmert, in denen Frauen Gemüse, Haushaltswaren, Secondhand-Kleidung und frisches Fleisch anbieten. Kühlschränke gibt es hier nicht, Tierhälften hängen an Metallhaken in der Sonne. Zwischen den improvisierten Marktständen betteln zerlumpte, abgemagerte Straßenkinder. Die Zahl der Bettler und Diebstähle hat in der Unterstadt seit dem Putsch zugenommen, bemerkt Hely Rakotomanantsoa nachdenklich.

Im März 2009 war Madagaskars gewählter Staatspräsident Marc Ravalomanana nach wochenlangen Straßenprotesten gestürzt worden. Drahtzieher des Aufstands waren dessen ärgster politischer Widersacher, Andry Rajoelina und Teile des Militärs. Ravalomanana flüchtete ins südafrikanische Exil, Rajoelina riss die Macht an sich. International wird er nicht als Regierungschef anerkannt, etliche Mediationsversuche liefen seitdem ins Leere. Die internationale Gemeinschaft zog Konsequenzen: Sie fror die Entwicklungshilfe ein und verhängte Wirtschaftssanktionen. Das hat deutliche Spuren im Stadtbild hinterlassen.

"Sehen kann man das vor allem an der Armut und dem Zustand der Straßen. Seit Ende der Regenzeit gibt es viele neue Schlaglöcher. Aber der Regierung scheint das Geld zu fehlen, sie zu reparieren. Neu sind auch die vielen Straßenhändler, jeder scheint irgendetwas verkaufen zu wollen. Auch das ist ein Zeichen für zunehmende Armut."

Viele der Händler wohnen in den Slums Antananarivos, ganz unten, in den ehemaligen Sumpfgebieten. Auch heute noch steht dort in der Regenzeit das Wasser, ein paar Kühe waten durch trübe Pfützen. In Kanälen zwischen einem verschachtelten Labyrinth aus baufälligen Häusern und Bretterbuden schwimmen Abfälle auf wuchernden Algenteppichen. Krankheiten grassieren: Malaria, Cholera und sogar die Pest.

Laut Zahlen des internationalen Kinderhilfswerks UNICEF leidet jedes zweite Kind in Madagaskar an chronischer Unterernährung, bis zu 20 Prozent gelten als akut unterernährt, mehr als drei Viertel der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Die Hauptstadt Antananarivo gilt im Landesvergleich zwar noch als vergleichsweise wohlhabend, aber auch hier hat die Armut deutlich zugenommen.

Reis, traditionell das Grundnahrungsmittel der Madagassen, ist durch explodierende Marktpreise für die meisten unerschwinglich geworden. Der Anbau auf kleinen Feldern, auch hier in den Slums, deckt den Bedarf der rapide wachsenden Bevölkerung nicht, betont Solofo Nirina, eine Art Gemeindevorsteher in diesem Armenviertel. Für das Interview hat sich der junge Mann seinen wohl einzigen dunklen Anzug angezogen.

"Die meisten Einwohner in dieser Gegend haben keinen Schulabschluss. Die Arbeitslosigkeit war schon immer hoch. Doch seit der politischen Krise hat sie drastisch zugenommen. Viele haben früher in den nahe gelegenen Textilfabriken gearbeitet, doch nach dem Putsch wurden sie geschlossen. Jetzt stehen die Leute stehen auf der Straße. Die Frauen versuchen ihre Familien durchzubringen, indem sie gegen ein kleines Entgelt Wäsche waschen, die Männer pressen aus dem Sand Bausteine, die sie am Straßenrand verkaufen."

Solofo Nirina deutet auf einen jungen Mann, der Steine auf einer Holzkarre schichtet und eine Frau, die im dreckigen Wasser des Kanals Wäsche wäscht. Louisette Razananoro ist in diesem Viertel aufgewachsen. Arm waren wir schon immer, erzählt die 33-Jährige, aber wenigstens hatten wir früher genug zu essen.

"In den letzten Jahren hat sich hier viel verändert: Immer mehr Menschen ziehen vom Land in die Stadt, obwohl auch hier kaum jemand mehr einen Arbeitsplatz hat. Zu viele Frauen versuchen jetzt ebenso wie ich als Wäscherin ein wenig Geld zu verdienen. Dadurch entstehen natürlich Konflikte. Das Leben ist wirklich sehr viel schwieriger geworden."

Drei Kinder muss die Witwe durchbringen, das jüngste ist erst 9 Monate alt, die älteste Tochter Touloutre ist 14. Sie hat noch nie eine Schule besucht. Das wäre mein größter Traum, sagt das Mädchen.

Die 14-Jährige ist kein Einzelfall. Das staatliche Bildungs- und Gesundheitssystem droht angesichts der politischen Krise zu kollabieren. Rund 70 Prozent der Staatsausgaben wurden zuvor durch Entwicklungshilfegelder finanziert. Doch seit die internationalen Geber diese Unterstützung eingefroren haben, fehlen der Regierung die Mittel, um Lehrer und Krankenschwestern zu bezahlen. Die Politiker wären gut beraten, einmal von ihren Hügeln in die Unterstadt zu kommen, meint Solofo Nirina.

"Im Namen der Menschen, die ich hier vertrete, wünschte ich mir, dass die Politiker und Beamten sich einmal hier vor Ort ein Bild von den Auswirkungen der Krise machen würden. Die Entwicklung unseres Landes hängt schließlich auch davon ab, was hier in den Armenvierteln geschieht. Wenn die Politiker darüber Bescheid wüssten, könnten wir vielleicht endlich wieder Hoffnung schöpfen."

Statt auf die Politik zu hoffen oder gar auf den Straßen gegen die Militärjunta zu demonstrieren, wenden sich die meisten Madagassen an ihre Vorfahren, wenn sie Hilfe und Unterstützung in ihrem Alltag brauchen. Eine uralte, fest verwurzelte Tradition in dem Inselstaat. Rund die Hälfte der Bevölkerung glaubt an die Macht der Ahnen. Auch viele konvertierte Christen haben sich nicht von diesem Glauben gelöst. Nicht nur auf dem Land, sondern auch in der Hauptstadt. Pilgerstätten wie der alte Königspalast Ambohimanga auf einem der zwölf Hügel Antananarivos scheinen seit Beginn der politischen Krise sogar an Bedeutung gewonnen zu haben.

Auf dem Gelände des Palastes, dem schattigen Innenhof und der parkähnlichen Anlage sind mehr Einheimische als Touristen zu sehen. Er ist einer der wichtigsten Orte der madagassischen Kultur. Hier lebte der König mit dem klangvollen Namen Andrianampoinimerina. Er vereinte die verschiedenen Stämme Madagaskars zu einer Nation und wird daher noch heute von vielen verehrt. Etwa zwei Dutzend Männer und Frauen haben sich versammelt, in einer schweigenden Prozession folgen sie einem älteren Mann in einem weißen Gewand auf einen Felsen hoch über der Stadt. Noro Raveloarisoa, die hier in der Palastanlage arbeitet, folgt ihnen mit etwas Abstand.

"Noch heute kommen viele Menschen hierher um zu beten. Der alte Mann stellt für sie die Verbindung zu den Ahnen her. Die Menschen sagen ihm, mit welchen Problemen sie zu kämpfen haben, und er teilt ihnen dann den Rat der Vorfahren mit. Dies ist ein heiliger Ort. Viele Menschen bringen hier Opfer dar, weil sie daran glauben, dass die Ahnen ihnen helfen können. Sie suchen den Schutz und den Segen der Vorfahren. Wohlhabende Leute können es sich leisten, ein Zebu-Rind zu schlachten, die anderen opfern Gänse, Enten oder süße Lebensmittel wie Bananen, Honig oder Zucker."

Nach einer Weile macht sich die Prozession auf den langen Rückweg zu Fuß in die Armenviertel und umliegenden Dörfer. Eine Frau mit asiatischen Gesichtszügen setzt sich auf den Stein, blickt auf die bescheidenen Opfergaben auf dem Felsvorsprung, richtet ihren Blick dann auf die weite Ebene. Auch für mich ist dies ein wichtiger Ort, erzählt die 51-Jährige. Ihren Namen behält sie für sich, denn was sie zu sagen hat, betrifft einen wichtigen Teil des Ahnenkults ihrer Landsleute: Von Zeit zu Zeit werden die sterblichen Überreste der Toten exhumiert und umgebettet. Für viele Madagassen ein Zeichen des Re-spekts und der Fürsorge für ihre Vorfahren.

"Sie wissen ja, dass die Mehrheit der Madagassen heutzutage sehr arm ist. Die Umbettung der Toten kostet jedoch sehr viel Geld, unter anderem weil man die Gebeine in Seide kleiden muss. Um sich dieses teure Ritual leisten zu können, müssen viele von ihnen ihre Reisfelder, ihr gesamtes Vermögen verkaufen. Das ergibt für mich keinen Sinn. Es wäre besser, wenn man die Toten ruhen lassen würde und das Geld für die Zukunft investiert, für die Kinder. Zum Beispiel, um eine Schule oder eine Klinik zu bauen, um davon Lehrer oder eine Hebamme zu bezahlen. Wenn wir unser Land entwickeln wollen, müssen wir uns von diesen Bräuchen trennen. Wir müssen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen. Für mich persönlich haben die Ahnen daher keinen Wert."

Die 51-Jährige spricht aus, was viele gebildete Einwohner und junge Leute in Antananarivo denken. Sie sehen in der vergangenheitsbetonten Kultur ihrer Gesellschaft ein ernstzunehmendes Entwicklungshemmnis. Wenn Fortschritt als Affront gegen die Vorfahren gewertet wird, kann sich die Situation im Land nur schwer verbessern, auch nach einer Lösung der schwelenden politischen Krise.
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